Szene VII: Informationen aus erster Hand
Bruder der Joggerin: Du, Mama, ich will endlich heim; voll doof hier ohne Spielplatz!!!!!
Joggerin: Ich möchte auch schnellstmöglich aus dem Wald raus, Mami; oh, mein Gott, es war eben so furchtbar in der Grafschaft Hanau-Münzenberg.
Mutter der Joggerin: Ja, wir machen uns dann allmählich mal weiter. Vielen Dank für die nette Unterhaltung, es war informativ und aufschlussreich; auch wenn für meine Begriffe manches doch stark an den Haaren herbeigezogen scheint. Ich meine, Trump mit reinzuziehen -egal wie man über ihn denken mag- ist recht gewagt.
Spaziergänger 1: Ich muss der Dame teilweise Recht geben. Sie überstrapazieren Trump gewaltig. Trump versprach, er werde gleich nach Regierungsantritt binnen vierundzwanzig Stunden in der Ukraine Frieden schaffen; heute exakt eine Woche im Amt, geht dieser Krieg seelenruhig weiter. US-Präsidenten kochen auch nur mit heißem Wasser.
Spaziergänger 2: Ei, ich vermute eher, Putin hält mächtige Karten in Händen; Karten, die einen Royal Flush überbieten. Der Putin war früher KGB-Offizier. Tausend Euro, der Putin schmökerte im Kreml beim Gläschen Wodka gemütlich Trump-Akten. Ich kann’s freilich nicht beweisen, theoretisch wäre sogar folgendes erweitertes Ablaufmodell denkbar. Zuerst setzt Russland im Auftrag der Grafschaft Hanau-Münzenberg Trump unter Druck. Trump übt daraufhin seinerseits Druck auf Berlin aus. Nach vier Tagen Präsidentschaft erhält Dennis Kevin I. prompt von seiner Reunionskammer beanspruchtes Gebiet.
Joggerin: Sie sind ja geistig verwirrt!!!!!
Mutter der Joggerin: Gehören Sie zur Querdenker-Bewegung? Angenommen, Ihr krudes Verschwörungsgefasel stimmt, warum hätte es dann die Grafschaft Hanau-Münzenberg nötig gehabt, sich wie Zuckerberg & Co. im Vorfeld bei Trump anzubiedern? Und jetzt kommen Sie bitte nicht mit Taktik oder Ablenkungsmanöver an. Überhaupt, für objektive Einschätzungen fehlen uns viel zu viel Informationen darüber, was sich jenseits des Mains tatsächlich tut. Diese Grafschaft gleicht einem weißen Fleck auf der Landkarte. In keiner Nachrichtensendung, in keiner Tageszeitung -von schmuddeligen Randnotizen in irgendwelchen Boulevardblättern abgesehen- erfährt die Bevölkerung etwas. Geben Sie mal im Routenplaner Hanau, Biebergemünd oder Maintal ein – Fehlanzeige! Nach der Staatsgrenze ist auf Google Maps alles nur noch unbekanntes, unerforschtes Terrain.
Spaziergänger 2: Allesamt Bestandteile der am frühen Nachmittag des 30. Oktober 2017 weltweit ausgelösten Operation Terra incognita. Der Befehl dazu kam direkt vom Area 51.
Joggerin: Du, Mami, das IST ein Querdenker!
Spaziergänger 1: Terra incognita? Und was darf ich mir darunter vorstellen?
Spaziergänger 2: Eine politische Agenda mit erklärtem Ziel, jenes wenige Stunden zuvor neuentstandene, unliebsame Gebilde Grafschaft Hanau-Münzenberg umgehend medial zu verbannen; wozu übrigens auch die sofortige Löschung des You Tube-Kanals noussommesversailles zählte. Hatte ich übrigens von 2015 bis zum Aus 2017 sogar selbst abonniert.
Spaziergänger 1: Ach, Sie auch? Konzept war ziemlich schräg, nicht wahr?
Spaziergänger 2: Gerade dadurch übte es jene magische Faszination aus, welcher Zuschauer sich kaum zu entziehen vermochten.
Spaziergänger 1: Genau DAS war ja Ziel und Zweck, nämlich, mit Hilfe größtmöglicher Reichweite international positive Einstellungen gegenüber der absolutistischen Epoche zu wecken.
Spaziergänger 2: Anders ausgedrückt, global den geistigen Nährboden für rückwärtsgewandte Änderungen bestehender Verhältnisse zu bereiten.
Joggerin: Ähm, und worüber handelten die Clips?
Spaziergänger 2: Der jetzt regierende Graf, seine Frau plus die drei Töchter nutzten das Rastatter Schloss als Kulisse für spektakuläre, historisch stilechte Auftritte, spielten eine hochadlige, eigentlich um 1775/1780 lebende, jedoch per Zeitmaschine ins Europa des 21. Jahrhunderts katapultierte Familie.
Mutter der Joggerin: Zeitmaschine? Wie affig! Ernsthaft, mit so was Abgedroschenem locken Sie heutzutage doch keinen mehr hinterm Ofenrohr hervor.
Spaziergänger 1: Mit dem Inhalt schon. Schockiert über die gegenwärtigen Verhältnisse appellierten ihre perfekt inszenierten Videos unermüdlich an eine möglichst rasche Rückkehr zum ancien régime. Die heutigen Zustände, welche sie sähen, seien tausendmal schlimmer als jene vor 1789.
Spaziergänger 2: Tja, und am 30. Oktober 2017 war der 3-Millionen-Follower-Account verschwunden. Dachte: „Schade, gehackt worden.“
Joggerin: Ey, bekloppt, nicht mal mit meinem Super-Smartphone findest du Grafschaft Hanau-Münzenberg!
Spaziergänger 2: Können Sie getrost wieder einstecken. Fehlkauf.
Joggerin: Fehlkauf?
Spaziergänger 2: Falsches Gerät. Ei, gönnt euch mal nette Sonntagsausflüge hoch nach Rockenberg, westlich von Butzbach, an der Grenze zur Hanau-Münzenbergischen Exklave Münzenberg. Diese Ecke besitzt autonomen Status, weil ihre Bevölkerung seit der von Schloss Philippsruhe vollständig finanzierten Reaktivierung der Butzbach-Licher Eisenbahn 2021 praktisch zu 99% pro Hanauerisch tickt; insgesamt bevorzugt man jedoch staatliche Zugehörigkeit zu Deutschland – daher die Autonomie. Ich schwör’s, ihr wähnt euch im 18. Jahrhundert. Ein Kuriosum.
Mutter der Joggerin: Ach? Erschreckend, wie wenig man doch über seine eigene Region Bescheid weiß.
Spaziergänger 2: Ich sag Ihnen, in Rockenberg, da blüht der Schwarzmarkt, mein lieber Scholli! Am Bahnhof bekommen Sie beispielsweise zum Spottpreis Smartphones, iPhones und Tablets mit eingebauter Zusatzfunktion für das Hanau-Münzenbergische Internet. Einschließlich vorinstallierter Navigations-App. Ohne Grenzübertritt. Ohne ESTA. Ohne Tagesvisum.
Mutter der Joggerin: Verkehren Sie öfters in der Grafschaft Hanau-Münzenberg auf – oder woher stammen Ihre Informationen?
Spaziergänger 2: Ne, seit dem Bußgeld ist mir die Lust vergangen.
Mutter der Joggerin: Verständlich.
Spaziergänger 2: Aber ich schwitze ja als Knecht beim Schwager, dem Toni, im Odenwald fürs Kloster Ilbenstadt. Und die Fürstäbtissin schickt vierteljährlich ungebetenen Besuch. Bedeutet: Nonne Mariella tanzt an, Wirtschaftsprüferin, stellvertretende Äbtissin sowie allerbeste Freundin aus Schulzeiten in einer Person. Unsympathisch bis oben hinaus. Geschminkt. Hochnäsig. Rotzfrech. Und dieses affektierte Ding schleppt selbstverständlich ordentlich Gefolge mit; weil Madame auf Reisen gewohnten Komfort beansprucht. Dann schallt erbarmungslos der Ruf durchs Bauernhaus: „Raus mit euch, elendes Pack, in die Ställe!“ Mein Schwager, der Toni, der seufzt dann immer zu mir: „Komm, Axel, s’wird wieder Zeit; bei den Kühen ist Platz. Besser unfrei auf dem Hof meiner Vorfahren ausharren, als in irgendeinem Sozialblock staatliche Almosen zu beziehen.“
Mutter der Joggerin: Unerhört!!!!! Menschen auf solch eine Art und Weise zu erniedrigen!!!!! Pfui!!!!!
Spaziergänger 2: Das Feudalsystem. Soll mein Schwager, der Toni, stattdessen lieber zum Amt betteln gehen? Wie dem auch sei. Während Mariellas viertägigem Aufenthalt schnappen wir natürlich verschiedene Sätze auf. Ferner kursieren in Lützelbach häufig Neuigkeiten. Wie auf allen seinen auswärtigen Besitzungen unterhält Kloster Ilbenstadt nämlich auch hier ein sogenanntes Kontaktbüro. Zielgruppe: junge, gutaussehende, leichtfertige Mädels, welche -des ländlichen Odenwälder Lebens überdrüssig- für glamouröse Extravaganzen eingebildeter Hofdamen, liederlicher Mätressen, im besten Fall vom adligen Ehemann aufrichtig geliebter Gattinnen, besonders empfänglich sind. Betroffene Familien benötigen meistens psychologische Hilfe.
Mutter der Joggerin: Nicht einmal fährst du mir in diese Grafschaft Hanau-Münzenberg! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, Schnattchen?
Joggerin: Ja, Mami. Und ich möchte jetzt unbedingt aus dem Wald raus, bitte.
Mutter der Joggerin: Wir haben’s jetzt wirklich eilig. War schön, mit Ihnen geplaudert zu haben. Auf, Kinder!
Spaziergänger 2: Nur ganz kurz noch. Um ein Beispiel zu nennen. Als ich vor Weihnachten bei uns im Ort seit langem mal wieder die Mutter von Leila Jane traf, erzählte mir eine schwer Leidgeprüfte über das ihnen im Sommer widerfahrene Schicksal. Am 25. Juli 2024 brach sie verzweifelt von Lützelbach auf, um ihre in Hofkreise abgedriftete Tochter aus Hanau zurückholen.
Spaziergänger 1: Klingt beunruhigend. Was war denn geschehen?
Spaziergänger 2: Wie Heranwachsende in den Jahrgangsstufen 13 nach bestandener Hochschulreife halt sind. Überschwänglich. Erlebnishungrig. Abenteuerlustig. Ein bisschen verrückt. Voller Elan und Tatendrang. So auch Leila Jane. Am 04. Juni 2024 düste die Abiturientin nach der letzten mündlichen Prüfung vom Schulgebäude mit Affenzahn ins Kontaktbüro, unterschrieb euphorisch den vorbereiteten, ab 01. Juli 2024 geltenden Anstellungsvertrag als Hofdame.
Spaziergänger 1: Dumme Frage, und beim wem?
Spaziergänger 2: Ausgerechnet bei der ausschweifend in Schloss Wilhelmsbad residierenden jungen weiblichen Liebespartnerin der Gräfin von Hanau-Münzenberg.
Bruder der Joggerin: Duuuuu Mami, die zwei Frauen sind les…
Mutter der Joggerin: Finn, halt dir sofort die Ohren zu!!!!! Sofort!!!!! Das hier ist für Erwachsene!!!!!
Spaziergänger 2: In der ehemaligen, auf Geheiß Graf Wilhelms IX. ab 1777 errichteten Bade- und Kuranlage eingetroffen, erreicht Frau Fahlmersylljer nach ewig langem Hin und Her endlich eine Audienz. Hofjungfer Leila Jane stolziert heraus, wie zur Ära Marie Antoinettes gekleidet, gepudert sowie mit Turmfrisur gekrönt, die hübschen Gesichtspartien verzogen vom aufgesetzten, verlogenen Lächeln. Zur Begrüßung schießt sie ihrer ein günstiges Sommerkleid vom Discounter tragenden Mutter spitze verbale Pfeile mitten ins Herz: „Passt überhaupt nicht zu deinen prallen T*tten. Wie eine aus dem Horizontalgewerbe. Ah, verstehe, willst damit auf der Frankfurter ‚Zeil‘ Männer anmachen. Beim Er*tikversand gabs wohl wieder die 70%-Rabatt-Aktion für s*xuell bedürftige Mittvierzigerinnen.“
Bruder der Joggerin: Duuuuu, Mama, was ist s*xuell bedürftig?
Mutter der Joggerin: Finn!!!!! Hab ich eben nicht klipp und klar gesagt, du sollst dir die Ohren zuhalten????? Das hier ist für Erwachsene!!!!!
Spaziergänger 2: Doch echte Mütter bewahren Haltung, schlucken runter, schweigen, verzeihen fehlende Lebenserfahrung, vermeiden Ohrfeigen als unmissverständliche Reaktion. Echte Mütter warten vielmehr passende Gelegenheiten ab, halten im Verlauf des Spaziergangs kurz inne, schauen aufmunternd zum Karussell.

Freudig meint Frau Fahlmersylljer: „Komm, Haselmäuschen, lass uns zu den süßen Pferdchen laufen; Oma und Opa schwärmen jedes Mal, die Acht seien so freundlich und erklärten Besuchern täglich in spannenden Führungen den Park. Wie wär’s, wenn wir eine solche Führung buchen? Ihren Geschichten zu lauschen macht bestimmt viel Spaß!“ Zeitgleich jedoch überkommt sie beim Anblick intuitiv ein sonderbares Gefühl.
Bruder der Joggerin: Duuuuu, Mama, Karussellpferde können gar nicht sprechen. Der Mann da arbeitet bestimmt beim Brüder Grimm Festival als Märchenonkel.
Mutter der Joggerin: Befürchte ich allmählich auch, Finn. Da fahren wir nie mehr hin; Kassel liegt ohnehin zu weit weg. Ach, Mama ist sooooo stolz darüber, dass ihr Krümelchen aufmerksam zuhört und sie in ihrem Misstrauen männlich bestärkt.
Spaziergänger 2: Bitte, schenken Sie mir Ihr Vertrauen! Durch das Kontaktbüro sowie die Qualitätsmanagementmaßnahmen sitze ich als rackernder Knecht beim Schwager, dem Toni, in Lützelbach, im Odenwald, direkt an der Quelle.
Spaziergänger 1: Und Leila Jane?
Spaziergänger 2: Schlurft gähnend gelangweilt jener hinterher, die ihr einst das Leben schenkte. Als erste am Karussell angekommen, hält Frau Fahlmersylljer dort abrupt inne.

Soeben hatte der Erkenntnisblitz eingeschlagen. Anders als in Erlebnisbeschreibungen ihrer Eltern gestattete lediglich ein aus großen weißen Planen herausgeschnittenes Sichtfenster noch Einblicke ins Innere. Zögernd tritt Frau Fahlmersylljer näher heran.

Nein, die seltsamen Vorahnungen vorhin, sie trogen nicht. Hinter dem das Sonnenlicht intensiv spiegelnden Kunststoffschutz bilden sich schemenhaft Attrappen ab, beängstigend irreal, gespenstisch, für die Betrachterin auf Dauer unerträglich.
Bruder der Joggerin: Duuuuu, Mama, der Mann nervt total!
Joggerin: Ich möchte jetzt wirklich unbedingt aus dem Wald raus, Mami.
Spaziergänger 2: Nachzüglerin Leila Jane gesellt sich hinzu. „Haselmäuschen“, wendet sich die Verstörte hilfesuchend zu ihr hin, „wo, um Himmels Willen, sind bloß die Karussellbewohner abgeblieben?“ „Hahaha!“, lacht die Palastdame schrill auf, ergänzt mit erschreckender Gehässigkeit: „Die dreckigen Gäule sind im Main baden gegangen!“ Wohlerzogene Damen verzichten dankend auf näheres Nachfragen.
Mutter der Joggerin: Nichts für ungut, wir haben’s eilig. Ihre Ausführungen besitzen ja Endloscharakter. Außerdem, Sie tragen ziemlich dick auf.
Joggerin: Frau Fahlmersylljers und Leila Janes wortwörtliche Zitate, garantiert frei erfunden und auswendig gelernt; die könnte ja nicht mal mein Freund sich merken.
Spaziergänger 2: Halt, warten Sie, der Schluss kommt gleich! Tags darauf kreuzt Fräulein Blutsaugerin aus Ilbenstadt zur Visitation auf. Schon am ersten Abend krieg ich im stinkenden Kuhstall kein Auge zu, rücksichtslos tratschen Mariellas Dienerinnen lautstark davor herum.
Bruder der Joggerin: Duuuuu, Mama, Fiona hat gepupst!
Mutter der Joggerin: Aber Krümelchen, so etwas sagt ein anständiger Junge doch nicht!
Joggerin: Gar nicht wahr!!!!!
Bruder der Joggerin: Doooooch, hast du! Und.nenn.mich.nicht. immer.Krümelchen!!!!!
Mutter der Joggerin: Bald sind wir daheim, Schnattchen.
Spaziergänger 2: Glücklicherweise lautet Axels Motivationsspruch im Hotel Kuhstall: Alles im Universum hat seinen Sinn! Denn kaum den Satz zehnmal hintereinander aufgesagt, krakeelen sie genau über das mit dem Baden im Main. Wilhelmsbads beliebte Hauptattraktionen, unfassbar, mussten im September 2021 überstürzt vor einem gräflichen Haftbefehl -auch lettre de cachet genannt- fliehen; das Atmen der Häscher näher und näher im Nacken spürend springen am Schiffsanleger Philippsruhe alle schließlich Hals über Kopf ins Mainwasser, schwimmen hastig rüber ans rettende deutsche Ufer. Im Auftrag Berlins betreiben sie seither sicher versteckt zwei Enthüllungswebseiten, packen schonungslos über die Grafschaft Hanau-Münzenberg aus.
Bruder der Joggerin: Duuuuu, Mama, der Mann da lügt!
Mutter der Joggerin: Wie gedruckt!
Spaziergänger 2: Bitte, glauben Sie mir, so wahr ich Axel heiße! Der Lärmpegel solch ungehobelter Gaken erlaubte es mühelos, beide Webadressen sorgfältig mitzuschreiben. Ich gebe Ihnen die grad mal…kleinen Moment…hier…also…zuerst…alessama…
Mutter der Joggerin: Ein anderes Mal gerne. Wünsche noch einen angenehmen Tag. Auf, Kinder, wir gehen!
04. 10. 2025
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