Szene IX: Der 15. Februar 1711
Melissa: Ein älterer Herr trat heran, innerlich kochend, starrte zeitgleich hinauf. Irgendwann sprach Mama ihn an. „Na, die sind aber rasant wieder in der Versenkung verschwunden. Wissen Sie zufällig Näheres?“ „Tuch weggerissen, Tür zugeknallt, Vorhänge zu, tschüss. Zum Glück hat dieser Gestörte aus dem Internet unsere schönen Gebrüder Grimm Fahnen oben gelassen. Ei, stellt eusch bloß emol vor, wollte der ahle Dummbatz die doch erst abhängen! Das war doch der Aff da von ‚You Tube‘!“ „Die schönen Gebrüder Grimm Fahnen? Nicht Ihr Ernst!“ „Ei, wenn ischs doch saaaaach! Kemmt der adlige Monsieur enaus gerennt wie’n wilder Ochs, brüllt rum, wenn er kein Graf geworden wär, würd er persönlisch schnurstracks das flatternde Zeugs nunner reißen und die Fahne der Sowjetunion enuff tun; passend zu den von seinen Gärtnern hingestellten roten Blumen.“ „Unglaublich!!!!!“ „Vollkommen meschugge!!!!! Isch schwör’s Ihnen, der Kerl ist Kommunist!!!!!“ Ich schaltete mich lernwillig ins Gespräch ein. „Du, Mami, was ist ein Kommunist?“ „Ach, das ist einer, der fest an die rote Fahne glaubt.“ „Und die Sowjetunion?“ „Ei, Mädsche, gibt’s ewisch ned mehr.“ „Na, gut.“ Der Mann zog daraufhin murrend von dannen.
Karussellpferd Leporello: Für den war der Tag wohl gelaufen.
Melissa: Mit einem Mal schlurft Tom, heran. Unfassbar, unfassbar unfassbar, dieser süße Handyverkäufer! Der Arme, sichtlich fertig, telefoniert verwirrt. Wie abgesprochen bleibt er neben mir stehen. Unter wildem Herzklopfen rattern aus It’s no good von Depeche Mode Zeilen des himmlischen Schicksals durch meinen Kopf:
The God’s decree
You’ll be right here by my side
Right next to me
You can run but you can not hide
Weiblich raffiniert positioniere ich mich direkt neben Toms männlicher Schulter. Zücke meins. Teures Statussymbol. Unwillkürlich schreiten wir näher ans Gebäude heran, putzen gehörig unsere Augen, um vorhin Erlebtes zu begreifen. Ein Traumpaar in harmonischem Gleichtakt. Flitterwochen auf Hawaii, wir koooooooooommeeeeen! Tom an meiner Seite wissend gucken wir beide füreinander bestimmt ungläubig hoch; hab auch hier jeden Satz gespeichert, aktivierte offenbar erneut die Voice-App.

„Ey, Alter, das gibt’s doch nicht, Alter!“
„Wieder am Rathausbalkon, wo denn sonst, Alter?“
„Bitte, Alter, du musst mir glauben!“
„Ey, Alter, ich red keinen Sche*ß!“
„Ey, versteh doch, Alter, Laura hat vorhin hier Schluss gemacht!“
„Ey, red ich Chinesisch, Alter? Laura hat Schluss gemacht! Direkt hier, wo die Kleine steht!“
„Spinnst du Alter? Das ist ne kindische Fünftklässlerin! Ihre Mutter hat für sie vor zwei Wochen das ‚Weihua Y40 Pro‘ bei uns gekauft.“
„Keine Ahnung, Alter, mit der Laura! Aus! Einfach so! Ey, kneif mich mal durchs iPhone, Alter! Kommt oben dieser kostümierte Witzbold raus, der von ‚You Tube‘, wie auf seinem Kanal gekleidet, weißes Gesicht, weiße Perücke, lässt ich feiern, macht auf ‚King Kong‘, zerbricht Hufeisen wie Salzstangen!“
„Ey, Alter, drei hintereinander. Ich schwör, Alter, der geht jeden Tag in die Muckibude!“
„Ey, hör mal zu, Alter, weißt du, was Laura diesem Typ zuschrie? Dass sie mitten aufm Balkon ein Kind von ihm will! Das ist doch nicht normal, Alter!“
Karussellpferd Theluma: Der Hufeisentrick! Von August dem Starken abgekupfert. Einst sollen Dresdens Damen angesichts solcher Zurschaustellung fürstlicher Kraft reihenweise in Ohnmacht gefallen sein. Wir hielten das stets für barocke Legenden aus dem galanten Sachsen – dafür also Herrn Kaisers schweißtreibendes Training daheim im Fitnesskeller.
Melissa: Noch immer fixiere ich gebannt die am Balkonwappen angebrachte Jahreszahl 1733, da würfelt Roms Glücksgöttin unverhofften Körperkontakt.
Karussellpferd Leporello: Fortuna?
Melissa: Ja, oh, Gott, Tom und ich stoßen unbeabsichtigt zusammen; was mir DIE Chance bietet, vorhandene Zweifel bei ihm zu zerstreuen und als erwachsene Fünftklässlerin mutig den ersten Schritt zu wagen: „Eeeeeeeeeeyyyyy, kannste nicht besser aufpassen? Mich einfach so anzurempeln!“ Oh, Gott, Tom antwortet: „Tschuldigung, ääääähhh, haste zufällig Laura gesehen?“ Jetzt frech daten: „Nö, aber vielleicht könnten wir…“ „Komm, kleines Mäuschen Lillifee“, funkt Spielverderberin Mama routiniert dazwischen, „wir müssen zum Parkhaus – du hast Mathenachhilfe!“ Oh, Gott, Tom grinst amüsiert. Wie peeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnnnnnnlich!!!!! Ich haaaaaaaaaasseeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!!
31. 08. 2025
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