#8 AK

Szene VIII: Vom Winde verweht

Melissa: Da hing dieses riiiiieeeeeseeeeennnnngroooooße Tuch hinterm Rathausbalkon. So breit wie das Geländer! Höher als die Türen! Es verhüllte alle drei Zugänge! Kann’s 2021 weiterhin kaum glauben! Also. Mama hatte mich nach Schulschluss ebenfalls abgeholt. Wegen des unbehaglichen Wetters überquerten wir zügig den Freiheitsplatz zur Bankfiliale; unwillkürlich fokussierten unsere Augen dabei verwundert jenen auf dem Tuchstoff in grellbunten Leuchtfarben weithin sichtbaren Slogan:

Bewegung 1733

Darunter grinsten Kaisers wie Honigkuchenpferde von einem lebensgroß aufs Textilmaterial geduckten Foto in ihren edlen Rokoko-Outfits, welche sie auf noussommesversailles stets zu tragen pflegten; auffällig jedoch, trotz des imposanten Familienporträts stand nur Alessa Maries Vater am Geländer.

Karussellpferd Theluma: Vorhersehbar. Starallüren waren den drei Sternchen zu Kopf gestiegen. Zickenkrieg tagein tagaus. Selbst Raubein Jawlonskji verweigerte den Eltern Garantien, dass sich drei auf einander eifersüchtige Beauty-Gaken aus boshafter Missgunst nicht öffentlich gegenseitig die extravaganten Turmfrisuren à la Marie Antoinette ruinieren. Auf Jawlonskjis Ratschlag hin blieben Herrn Kaisers übergeschnappte Töchter deshalb daheim; und ohne mütterliche Anwesenheit hätte es im Haus Mord und Totschlag gegeben.

Melissa: Ups, dringende Korrektur erforderlich. Zunächst fehlte auch Herr Kaiser; er wurde ja erst später aus dem Rathauszimmer gerufen.

Karussellpferd Leporello: Von wem denn?

Melissa: Da befanden sich elf Verkleidete auf dem Balkon. Vermutete zuerst, Elferräte übten fleißig für den 11. November. Zwei von ihnen trugen Bluetooth-Headsets, hundertpro diese Männer, die bei euch auftauchten, Fabi. Und obwohl unangenehme Böen bliesen hielten mehr und mehr Menschen neugierig an. Mama allerdings bekams mit der Angst zu tun: „Das sind aber unheimliche Gestalten, da schaudert’s einen richtig! Von denen möchte ich als Frau keinem bei Dunkelheit alleine begegnen! Nie im Leben sind die vom Karneval!“

Karussellpferd Theluma: Herrn Kaisers harter, treu ergebener Söldnerkern. Glühende Verehrer von Bob Denard; mit ihrer Hilfe gründete er tags darauf das Hanauer Bataillon neu, unseres Machthabers Elitearmee. Uniformen aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges 1756-1763. Wüste Spießgesellen. Teils per internationalem Haftbefehl gesucht; sinnlos, Schloss Philippsruhe deckt sie. Darum mahnen wir derzeit beim Abschied eindringlich: „Und befolgen Sie unbedingt die aktuellen ‚CoVid-19‘-Maßnahmen; bei Kontrollen niemals mit Soldaten des Bataillons Streit suchen, niemals! Bitte, bleiben Sie gesund!“

Melissa: Boah, dann ging’s ab! Unser Schulchor erschien. Eine Karnevalsband tauchte auf. Mädchen aus der Jahrgangsstufe 11 kamen als Funkenmariechen, begannen fröhlich zu tanzen. Jungs aus der 12 verteilten in Dienerkostümen becherweise roten Sekt.

Karussellpferd Leporello: Hicks! Auf die Russische Oktober-revolution von1917!

Melissa: Mama lehnte dankend ab. Ich durfte nicht. Gemein. Ausgerechnet bei Sascha. Stand ihm voll gut; Sascha sah aus wie einer aus der Rokokozeit. Egal. Hauptsache, ausgelassene närrische Stimmung. Alles sang, schunkelte; nur keiner wusste eigentlich genau, warum.

Karussellpferd Theluma: Roter Sekt halt.

Melissa: Traum von Amsterdam verstummte. Ein ausgesprochen furchteinflößender Elferrat bekam Zettel und Mikrofon gereicht, stellte sich ans Balkongeländer und – haltet euch fest- fing eine Büttenrede an. Toooootaaaaaaaaaal abgefahren! Zum Schluss zerknüllte er ihn, warf das Papier achtlos runter. „Helau, hetzt regnet’s Kamellen!“, juchzte ich. „Aber kleines Mäuschen Lillifee! Man hebt dich nicht auf, was andere Leute auf die Straße schmeißen!“ Peeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnlich, in der Fünften Klasse Gymnasium! Ich haaaaaaaaaassssseeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt! Egal. Hob das zerknäulte Blatt heimlich hinter Mamas Rücken auf, vermutete darin nämlich Bonbons. In meinem Zimmer Enttäuschung hoch zehn. Keiner Ahnung, besitze es aber heute noch. Hier.

Karussellpferd Leporello: Dürfen wir lesen?

Melissa: Klaro. Hab auch ne Tonaufnahme. So doof, wollte eigentlich ein Video machen, stattdessen aktiviere ich vor lauter Aufregung unbemerkt die Voice-App. Ging ja alles ratzfatz.

Karussellpferd Theluma: Mensch, super, Melissa!

Melissa: Achtung, geht los. Die Stimmen zwischendurch sind von Leuten direkt neben uns. Mama ist übrigens ebenfalls drauf. Dreimal.

(Handylautsprecher Büttenredner):

„Ich grüß die Narren uff der Gass,

und sage euch, das ist kein Spaß.

Der Mann, zu dem ihr gleich aufseht,

macht, das hier nur Frischluft weht,

quer durch unsre liebe Stadt,

die mehr verdient als sie grad hat.“

(Handlautsprecher Karnevalsband): Tusch.

(Handylautsprecher Frau 1): „Er hat Recht! Was haben wir hier Großartiges?“

(Handylautsprecher Frau 2): „Schaut euch doch bloß mal um!“

(Handylautsprecher Mann 1): „Eine Schande!“

(Handylautsprecher Frau 3): „Huch, was war das?“

(Handylautsprecher Mann 1): „Kam von der ‚Marienkirche‘.“

(Handylautsprecher Mann 2): „Hoffentlich keine Gasexplosion.“

(Handylautsprecher Büttenredner):

„Wenn ich so durch die City geh,

da tun mir beide Augen weh.

Ich bin halb blind schon von dem Schrott;

der ganze Schund muss endlich fort!

Versprech’s, ich werde Hanau segnen,

auf dich soll’s rote Rosen regnen!“

(Handylautsprecher Karnevalsband): Tusch.

(Handylautsprecher Mann 3): „Bravo! Bravo!“

(Handylautsprecher Mann 4): „Applaus!“

(Handylautsprecher Mann 2): „Genau, klatscht noch mehr Beifall! Endlich sagt jemand laut seine Meinung!“

(Handylautsprecher Frau 4): „Und so etwas nennt sich ‚Moderne Innenstadtgestaltung‘ – dass ich nicht lache!“

(Handylautsprecher Mann 1): „Kein einziges historisches Gebäude originalgetreu rekonstruiert!“

(Handylautsprecher Mann 5): „Das kriegen ja die Frankfurter besser hin, werdet’s sehen bei der Altstadteröffnung nächstes Jahr!“

(Handylautsprecher Mann 6): „Dafür setzte man uns dieses Einkaufszentrum vor die Nase!“

(Handylautsprecher Mann 4): „Das hat’s gebraucht! In Offenbach gibt’s doch eh schon eins!“

(Handylautsprecher Mann 3): „Typisch, für unnötigen Schnickschnack steht genug Geld zur Verfügung!“

(Handylautsprecher Mann 1): „Seltsam, nicht wahr? Da sind die Kassen überraschenderweise voll!“

(Handylautsprecher Mann 7): „Jakob und Wilhelm würden sich im Grabe umdrehen!“

(Handylautsprecher Frau 5): „Eine Zumutung!“

(Handylautsprecher Mann 7): „Hier hilft nur noch wegziehen!“

(Handylautsprecher Frau 6): „Meine Güte, sind die geladen!“

Melissa: Die zuletzt ist übrigens Mama gewesen.

(Handylautsprecher Büttenredner):

Doch nicht nur’s Forum,

nein, kein Stuss,

sehe hier noch viel mehr Verdruss,

weiß, Hanau ist ne harte Nuss,

drum die Botschaft, klares Muss:

Schluss mit dem ‚Reichsdeputationshauptschluss‘!“

(Handylautsprecher Karnevalsband): Tusch.

(Handylautsprecher Frau 7): „Hört dir den tosenden Beifall an, Bettina!“

(Handylautsprecher Frau 8): „Recht hat er, Anja! Recht hat er“

(Handylautsprecher Frau 7): „So kann’s hier nicht weitergehen!“

(Handylautsprecher Frau 5): „Es muss endlich Schluss damit sein!“

(Handylautsprecher Mann 6): „Allmählich reicht’s mir mit dem Hauptschluss!“

(Handylautsprecher Frau 8): „Wie lange soll der eigentlich noch dauern?“

(Handylautsprecher Mann 2): „Vier Jahre, hab ich gehört! Mindestens!“

(Handylautsprecher Mann 1): „Nicht umständlich fragen, auf, Leute, zum Shoppingcenter!“

(Handylautsprecher Mann 3): „Wir nehmen das jetzt selber in die Hand!“

(Handylautsprecher Mann 7): „Und vergesst an der Baustelle die Pflastersteine nicht!“

(Handylautsprecher Frau 6): „Mir ist bange zumute, kleines Mäuschen Lillifee, wo bleibt nur die Polizei?“

Melissa: Mama zum Zweiten. Ich haaaaaaaaaassssseeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!!

(Handylautsprecher Menschenmenge): „Schluss! Schluss! Schluss! Schluss! Schluss! Schluss!“

Melissa: Darauf formierte sich eine Gruppe, zog unter lauten Schluss!-Rufen entschlossen los. Die beiden Elferräte mit Bluetooth-Headset reagierten blitzschnell, verschwanden auf Handzeichen vom Balkon, stürzten mit Transparenten bepackt aus der Rathaustür dem Pulk hinterher. Nachdem sie ihn eingeholt und ihre Plakate verteilt hatten, bildeten sie dessen Spitze und führten den Demonstrationszug an.

Karussellpferd Leporello: Eiskalte Vollprofis. Kanalisierung gewaltbereiter Militanter. Deeskalationsstrategie. Verwandlung eines wildgewordenen Mobs in eine Schar harmloser Protestler. Ihr seht, was passiert, wenn Menschen von einer Sache zwar absolut nichts verstehen, aber dennoch glauben, Bescheid zu wissen.

Karussellpferd Theluma: Dennis Kevins gewiefte Handlanger waren im Drehbuch wirklich auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet.

Melissa: Hört euch die Pfiffe an.

(Handylautsprecher Mann 8): „Buuuuuuuuuuhhhhh!!!!!“

(Handylautsprecher Mann 9): „Aufhören!!!!!“

(Handylautsprecher Mann 10): „Wir wollen Fakten sehen!!!!!“

(Handylautsprecher Mann 11): „S’wird brenzlisch, Karl.“

(Handylautsprecher Mann 12): „Die Meng do lässt sisch nimmer lang uffhalte.“

(Handylautsprecher Frau 9): „Mädels, seht ihr die Leiter an dem Gerüst dort hinten????? Die schnappen wir uns und klettern rauf!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 10): „Und oben kriegt Mister Laberfritze dann seine Krawatte abgeschnitten!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 11): „Heeeeelaaaaauuuuu, heute ist vorgezogene Weiberfastnacht!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 12): „Heeeeelaaaaauuuuu!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 6): „Gütiger Gott, kleines Mäuschen Lillifee, wenn jetzt nichts geschieht!“

Melissa: Mama zum Dritten. Ich haaaaaaaaaassssseeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!! Einige Elferräte realisierten die drohende Gefahr. Drehe mal diese Stelle lauter. Normalerweise im Geschrei unverständlich; doch so könnt ihr es deutlich heraushören.

(Handylautsprecher Elferrat 1): „Dawei, dawei, Schluss, Schluss!“

(Handylautsprecher Elferrat 2): „Komm, Ende, yallah, yallah!“

(Handylautsprecher Elferrat 3): „Final, amigo, final, kapierst du?“

Karussellpferd Theluma: Söldnersprachen aus aller Herren Länder; wundert mich dass die Zuhörer den radebrechenden Akzent des reimenden Kriegers überhaupt verstanden haben.

Karussellpferd Leporello: Gingen fraglos von einem ulkigen Programmbestandteil aus.

(Handylautsprecher Büttenredner):

„Drum hört, ihre Leute, seid schön brav,

und klatscht, wenn gleich kommt eurer Graf,

der alles kann, der alles darf,

von Hanau und von Münzenberg,

stets ein Gigant, niemals ein Zwerg.

Er weiß, wo hier der Schuh stark drückt.

So manche Frau kreischt gleich entzückt.

Ich mach mich fort. Werd sonst verrückt. Helau!“

(Handylautsprecher Karnevalsband): Tusch.

(Handylautsprecher Mann 12): „Hör uff zu babbeln, tu was, sonst hol isch disch enunner!!!!!“

(Handylautsprecher Mann 11): „Hannebambel, mach disch fort!!!!! Mach disch wo hie mit daanem Geschwätz!!!!!“

(Handylautsprecher Mann 7): „Unsere Brüder Grimm wollen keine Märchen hören!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 4): „Immer diese leere Versprechungen, selbst beim Karneval!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 2): „Dahinten, dahinten, die Leiter kommt, die Leiter kommt!!!!!“

(Handylautsprecher Mann 12): „Wurd aach Zeit, hamn die vorher noch gemütlisch n Bembel Äppelwoi enoi gekippt????“

(Handylautsprecher Menschenmenge): „Rathaussturm!!!!! Rathaussturm!!!!! Rathaussturm!!!!! Rathaussturm!!!!! Rathaussturm!!!!! Rathaussturm!!!!!“

(Handylautsprecher Frau 6): „Nur weg von hier, kleines Mäuschen Lillifee schützen! Vielleicht schaffen wir es unbeschadet zum Parkhaus!“

Melissa: Uuupsi, vergaß, Mama zum Vierten. Ich haaaaaaaaaassssseeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!!

Karussellpferd Leporello: Das rettende Schluss-Helau fiel offenbar in letzter Sekunde; da oben auf dem Balkon hätte wohl keiner mehr Verantwortung übernommen.

Melissa: Der Büttenredner bekam ein Megafon gereicht, schnippte unserem Schulchor zu. Der nahm fein Aufstellung.

(Handylautsprecher Büttenredner):

„W O O O L L E M E R I H N

E N A U U U S L A S S E ? ? ? ? ?“

Karussellpferd Theluma: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhh, meine Ohren!!!!!

Karussellpferd Leporello: Du hast vergessen, wieder auf leise zu stellen.

Melissa: Uuuuups.

(Handylautsprecher Mann 11): „Worauf wart’ste noch?????“

(Handylautsprecher Mann 12): „Mach disch her!!!!!“

Melissa: Ihr hört’s, die Kapelle spielt den Narrhalla-Marsch. Seine acht Elferratskollegen eifrig klatschend der mittleren Balkontür zugewandt. Wartet…JETZT! Aus dem Tuchschlitz tritt Herr Kaiser hervor! In Adelskleidung wie um 1775/1780. Dreispitz im Arm. Weiße Zopfperücke. Weißes Gesicht. Winkt gnädig. Wiiiiiiiiiieeeeeeeeee von einem anderen Stern!!!!! Toooootaaaaaaaaaal creepy!!!!!

(Handylautsprecher Büttenredner): „Lang lebe Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden neuer Graf von Hanau-Münzenberg!!!!!“

Karussellpferd Theluma: Ein Glück, Normallautstärke. Ansonsten flöge mein Kopf weg.

Karussellpferd Leporello: Frenetisches Tohuwabohu.

Karussellpferd Theluma: Irrational.

Karussellpferd Leporello: Die juristische Klausel! Herrn Kaisers fürstlich bezahlte Winkeladvokaten hatten sämtliche Willenserklärungen im 1643 zwischen Freiherr Georg II. von Fleckenstein-Dagstuhl, Vormund Friedrich Casimirs, dem späteren Graf von Hanau-Lichtenberg und Hanau-Münzenberg, sowie Landgräfin Amalie Elisabeth geschlossenen Erbvertrag erfolgreich angefochten; wobei das Gericht zur Überzeugung gelangte, die frühere Grafschaft Hanau-Münzenberg existiere auch nach Johann Reinhards III. Tod 1736 als eigenständiger Rechtskörper de facto bis heute fort.

Fabian: Der Erbregelungsvertrag von 1643? Hey, den hatte meine Schwester vor drei Jahren im Projektwochenkurs Heimatgeschichte. Total spannend, wie früher Politik betrieben wurde.

Karussellpferd Leporello: Wobei jedoch der Kontraktinhalt selber bei der Urteilsfindung überraschenderweise keine nennenswerte Rolle spielte; sein damaliger Hintergrund, Der Dreißigjährige Krieg, diente während des Verfahren lediglich als Vorwand.

Karussellpferd Theluma: Vielmehr führten Herrn Kaisers Juristen die allgemeine Persönlichkeitsstruktur von Friedrich Casimir an. Nach dem Fehlschlag des Kolonialprojekts Hanauisch-Indien 1669, was ihm beim Volk den üblen Spottnamen König von Schlaraffenland eintrug, wurde er ja 1670 unter Kuratel gestellt.

Karussellpferd Leporello: Ausschlaggebendes Argument war also der durchaus berechtigte Einwand einer bereits gegen Ende der Vormundschaft vorgelegenen, allerdings erst in den 1660er Jahren sichtbar gewordenen geistigen Unzurechnungsfähigkeit Friedrich Casimirs. Es ging praktisch im Grunde genommen um nichts anderes als folgende Gretchenfrage: Sind für möglicherweise geistig unzurechnungsfähige Mündel geschlossene Erbverträge rechtsgültig?

Karussellpferd Theluma: Nein, unwirksam, schloss sich das Gericht Herrn Kaisers Sichtweise an.

Karussellpferd Leporello: Alles weitere ist schnell erklärt. Ohne Vollbesitz geistiger Kräfte keine gültiger Erbvertrag. Ohne gültigen Erbvertrag kein Übergang der Grafschaft Hanau-Münzenberg nach Aussterben der Linie an die Landgrafschaft Hessen-Hassel. Infolgedessen blieb der Grafenthron seit 1736 vakant. Nicht einmal Napoléon Bonaparte wusste davon.

Karussellpferd Theluma: Allerdings gestatteten die Richter eine Wiederherstellung staatlicher Souveränität nur unter Auflagen; dies betraf beispielsweise Modalitäten der Thronbesteigung.

Karussellpferds Leporello: Rechtmäßige Nachfolge ja, sofern ihm bei seiner Ausrufung die Ständehuldigung sicher sei.

Fabian: Ständehuldigung? Hey, die hatte Jana damals auch in Heimatgeschichte; sie besitzt immer noch diese Kopie mit dem alten Kupferstich, auf dem Preußens Stände 1663 in Königsberg Kurfürst Friedrich Wilhelm die Erbhuldigung leisten. Total spannend, wie früher Politik betrieben wurde.

Karussellpferd Theluma: Dem nüchtern-realistischen Umstand geschuldet, dass historisch überlieferte Ständeordnungen anno 2017 längst Schnee von gestern waren, erachteten die Richter, umgerechnet aufs 18. Jahrhundert, mindestens fünfhundert anwesende volljährige Bürgerinnen und Bürger -welche nicht unbedingt in Hanau gemeldet sein mussten- als Huldigende ausreichend.

Karussellpferd Leporello: Laut Presse jubelten dank dieses ausgebufften Tricks tatsächlich ungefähr Achthundert dem frisch Gekürten enthusiastisch zu. Die ferner per Gerichtsbeschluss geforderten neutralen Beobachter bezifferten deren Zahl sogar mit geschätzten Eintausend. Fakt, von überall strömten Schaulustige herbei, neugierig angelockt vom vermeintlichen Prinz Karneval. Ahnungslose, morgens gegen 10.00 Uhr auf dem Weg zur Arbeit, zum Shoppen, Arzt oder sonst wohin. Simple Masche, um Wilhelmsbads Karussellpferde auszutricksen.

Karussellpferd Theluma: Tagelang trabten, galoppierten wir im Auftrag des BND schnaubend und wiehernd in Hanau umher, klingelten häuserweise, klingelten blockweise, klingelten straßenweise, leisteten überall tränenerfüllt Überzeugungsarbeit, verteilten an Taxiständen, Bahnhöfen, Bushaltestellen unermüdlich Flyer, ermahnten eindringlich, niemals einer Einladung von Herrn Kaiser zu folgen – selbst wenn er fürs Kommen Geld zahlen würde.

Karussellpferd Leporello: Dem BND lagen nach Urteilsverlesung nämlich Informationen seriösen Ursprungs vor, Herr Kaiser plane zur Erfüllung richterlicher Vorgaben am 30. Oktober 2017, 16.00 Uhr, eine öffentliche Versammlung in der August-Schärttner-Halle.

Karussellpferd Theluma: Geschickt lancierte Fake News.

Karussellpferd Leporello: Durch unsere Warnaktion sollten den Möchtegernadligen von noussommesversailles dort eigentlich faule Eier und verschimmelte Tomaten verscheuchen – noch bevor er am Rednerpult „Grafschaft Hanau-Münzenberg“ auch nur leise zu husten vermochte. Deckname Kölle alaaf! hatte beim BND freilich niemand auf dem Radar. Wen verwundert’s daher, wenn Karneval vielen Menschen suspekt erscheint.

Karussellpferd Theluma: Und weil brisanter Gerichtsprozess aus Angst vor Nachahmern staatlicher Geheimhaltung unterlag, dachte am 30. Oktober 2017 auf Hanaus Freiheitsplatz logischerweise jedermann, jedefrau gutgläubig, Proben für den Rathaussturm 2018 beizuwohnen; bis die 20.00 Uhr Tagesschau in einer lapidaren Ein-paar-Sekunden-Randmeldung vor dem Wetterbericht jene in ihrer Tragweite unabsehbaren Konsequenzen von „Er lebe hoch, hoch, hoch!“, „Lang regiere unser Graf!“, „Bester Mann!“ oder „Mögest du zehntausend Jahre herrschen!“ kundtat.

Karussellpferd Leporello: Zu spät, zu spät. Seine Durchlaucht Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg, vormals Krankenpfleger auf der Intensivstation, dann mehrfacher Glückspilz -siebenmal in Folge den 90 Millionen Eurojackpot abgesahnt- und seine holde Gattin Jessica, nunmehr Bernardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg Gräfin von Bernstein-Mechthild, regierten da bereits stundenlang, gekleidet à Louis XVI. et à la Marie Antoinette, legitim das Stadtgebiet; ihre vom Lottogewinn gekauften Adelstitel gemäß uns vorliegenden Informationen bereits seit Januar 2016 in der Tasche.

Melissa: Deeeeeeeeeessssshaaaaalb Mamas komisches Bauchgefühl!!!!! Anstatt Herrn Kaiser zu applaudieren, als der sich umständlich aus dem Tuschschlitz zwängte, nahm sie flüsternd meine Hand: „Komm, kleines Mäuschen Lillifee, wir verschwinden! Mir ist das Ganze nicht geheuer; da johlen wir nicht mit! Der führt Dubioses im Schilde!“ Ich haaaaaaaaaassssseeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!! Nun danket alle Gott erklang.

Karussellpferd Theluma: Unbescholtene Schulchöre unverfroren für eigene Zwecke einspannen; geschmackloser geht’s nimmer.

Melissa: „Neeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnnnn, Mamiiiiiiiiii, ich will hierbleiben!“, bettelte ich kläglich „Ich will Herrn Kaiser sehen! Ich will Karneval feiern! Ich will unseren Schulchor das Kirchenlied singen hören! Mamiiiiiiiiii!“ Zwecklos. Energische mütterliche Kräfte bewegten meinen widerspenstigen Körper unerbittlich weg; und ich Naive fand das alles ringsum einfach nur hip.

Fabian: Ich Idiot doch auch vor dem Forum, Meli, ich Idiot doch auch.

Melissa: Nachdem Mama am Schalter genügend Bares abgehoben hatte, ordnete sie ursprünglich einen gewaltigen Bogen ums Rathaus an; doch der Blick auf den Freiheitsplatz ließ uns beim Verlassen des Bankgebäudes stutzen. Hanaus beliebter Treffpunkt, wie leergefegt. Der Rathausbalkon von Weitem verwaist.

Karussellpferd Leporello: Unseres frischgebackenen Staatsoberhaupts schmetternder Megafon-Schlachtruf: „Im Schlosspark Philippsruhe drei Tage lang Essen und Trinken umsonst!“

Karussellpferd Theluma: Ein Straßenfeger. Seither in der Grafschaft Hanau-Münzenberg geflügeltes Wort für Auf anderer Leute Kosten leben.

Melissa: Sind da vermutlich grad ins Foyer rein. Mama jedenfalls änderte spontan ihre Meinung, schleppte mich zurück. Perplex guckten wir zum Balkon rauf.

Vom Ort fröhlicher Fastnachtsstimmung verkommen zur gähnenden Ödnis. Herr Kaiser samt Elferräte und Tuchlaken spurlos verschwunden; als wäre droben nie was gewesen. Nur die Fahnen flatterten im kühlen Lüftchen; als ob Windstöße den Balkon leergepustet hätten.

08. 08. 2025

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