Szene XIII: Außenseiterin
Reisebloggerin Sandra: Ok, kurz zu mir. Ich heiße Sandra und suche in den ehemaligen Ostblockstaaten Spuren von sowohl vergessenen als auch nicht vergessene Orten aus der Zeit des Sozialismus. Wo beispielsweise finden wir im Stadtbild nach wie vor unverdrossen zum Proletariervolk sprechende Lenin-Statuen an ihrem Originalplatz? Wo stand bis zur Entstalinisierung die Statue des Diktators? In welchem Hotel in Split hat Tito mal über-nachtet? Diesen uns anderen spannenden Fragen gehe ich nach.
Reiseblogger Lars: Na, klasse. Hier kriegst du echt Sensationen geboten. Vom Feinsten. Da erhält das Adjektiv spannend ganz neue Bedeutungshorizonte. Und wie viele Follower generiert man mit Lenin, Stalin und Konsorten? 50?
Reisebloggerin Sandra: Jaaaaa, ich gebe zuuuuu, absolute Randnische. 100.
Reiseblogger Lars: Oh, um satte 50% verschätzt. Höchstwahr-scheinlich allesamt noch lebende Ex-Politbüromitglieder; dass Repräsentanten feudaler Ausbeuterei überhaupt rot anmutende Accounts zulassen. Du bist doch ne Linke?
Reisebloggerin Sandra: Und wenn? Wohne sogar in Karl-Marx-Stadt. Zeigt ihr deshalb jetzt alle verächtlich mit dem Finger auf mich?
Reiseblogger Peter: Wenn meine Wenigkeit dazu etwas sagen darf…ich erkenne darin jetzt bei Dennis kein widersprüchliches Verhalten; der ausgerollte Teppich vorm Eingang war schließlich auch rot. Okokokokok, sollte ein Gag sein! Leute, das sollte ein Gag sein!
Reisebloggerin Lana: Auf der anderen Seite ist Lars‘ kritische Bemerkung aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Feudalismus und Kommunismus sind zwei getrennte Paar Schuhe.
Reisebloggerin Delara: Weltanschaulich unvereinbare Gegen-sätze.
Reiseblogger Lars: Was also bewog die offensichtliche Genossin plötzlich dazu, sich lieber mit edler robe à l’Anglaise anstatt schlichter FDJ-Uniform in Schale zu schmeißen? Hat dich der Klassenfeind gekauft?
Reisebloggerin Sandra: Ich möchte ganz ehrlich zu euch sein.
Reiseblogger Lars: Das Zentralkomitee ist ganz Ohr.
Reisebloggerin Sandra: Dennis‘ Einladungsmail schmeichelte natürlich ungemein. So richtig neugierig machte mich allerdings dieser frisch gekaufte Bestseller, welcher 14 Tage zuvor im Bahnhofsbuchladen auf dem Tisch mit den brandaktuellen Neuerscheinungen stand.
Reisebloggerin Josepehine: Ein Buch?
Reisebloggerin Sandra: Ja, die Autobiografie einer ehemaligen Untertanin von Dennis. Als Vierzehnjährige mit ihren Eltern irgendwann im Mai 2021 ausgereist, bis dahin wohnhaft in Hanau.
Graf von Hanau-Münzenberg: Wie bitte?
Reisebloggerin Sandra: Melissa P., Meine Kindheit im Schatten des Sonnengrafen – Ein verpfuschtes Mädchenleben, kürzlich erschienen, Anfang Juli 2021. Unglaublich packend geschrieben, wie ein Thriller, hatte es an einem Tag durch.
Graf von Hanau-Münzenberg: WIE BITTE?????
Reisebloggerin Sandra: Im 10. Kapitel beschreibt Melissa P., wie sie am 30. Oktober 2017 nach einer schweren Explosion vor der Marienkirche zu Boden geht und um ihr Leben bangt; und ja, die Russische Oktoberrevolution von 1917 spielt dabei eine zentrale Rolle.
Graf von Hanau-Münzenberg: BILLIGSTE TRIVIALLITERATUR!!!!!
Reisebloggerin Delara: Hast du’s einstecken?
Reisebloggerin Sandra: Darf ich, Dennis?
Graf von Hanau-Münzenberg: Ich habe jetzt ohnehin etwas ab-seits am Telefon einiges zu klären. Aber NUR diese eine Passage, verstanden?
Reisebloggerin Sandra: Versprochen, Dennis! Danke! Also, hört zu. Seite 86. Kapitel 10. – Es hätte an diesem Tag alles so schön werden können.
Mama und ich erreichen die ‚Marienkirche‘. Die konsum-freudigen Zukunftsgedanken einer Zehnjährigen kreisen nur um das eine: „Endlich! Bald sind wir im ‚Forum Hanau‘! Mit Mama ausgiebig shoppen! Echt das Größte! Benötige ein Tablet! Nele, Ella und Tim haben schließlich auch schon eins!“ Was ich dann höre, ist dieser grässliche, ohrenbetäubende Krach. Bis an mein Lebensende wird mir dieser Höllenlärm tief ins Gedächtnis eingebrannt bleiben. Ein infernalischer Knall, als ob durch eine Gasexplosion gleich sämtliche Häuser ringsum einstürzen würden. Nur unsere Ohrenschützer, welche wir wegen des unangenehmen kalten Windes tragen, bewahren die Gehörorgane vor Dauerschäden. Ich kreische. Mama reißt mich nieder, birgt mit ihrem schützenden Körper den ihres Kindes. Messerscharfes Bersten splitternder Fensterscheiben zerschneidet die kühle Morgenluft. Ich schließe die Augen. Der menschliche Urinstinkt: WIR MÜSSEN ÜBERLEBEN!!!!! WIR MÜSSEN ÜBERLEBEN!!!!! Links und rechts neben uns prasselt ein Glasregen nieder. Mama flüstert mir voller Todesangst zu: „Wenn mir etwas zustößt, du bist meine über alles geliebte Tochter! ‚Kleines Mäuschen Lillifee‘, versprich mir, sag Papa, dass ich ihn über alles liebe!“ Ich kreische erneut. Beginne schluchzend zu beten: „Lieber Gott, bitte mach, dass Mama nicht von einer Scherbe am Hals getroffen wird und auf Hanaus Straße hilflos verbluten muss!!!!!“ Totenstille. Nur mein Mädchenherz pocht wild. Mama riskiert es. Steht auf. Reicht mir die Hände. Kann ich es wagen? Mama lächelt ermutigend. Ihr über alles geliebtes ‚Kleines Mäuschen Lillifee‘ folgt dem mütterlichen Beispiel. Ich weiß nicht mehr warum, doch sobald ich stehe, geht mein Blick panisch hoch zur ‚Marienkirche‘. 5 Minuten lang in ein und dieselbe Richtung. Dabei zeigt sich am Bauwerk das ganze schreckliche Ausmaß. Der Knall war so stark, dass die Druckwelle sogar einen Teil des dicken Plastikschutzes am seitlichen Chorfenster herausgerissen hatte.

Knapp dreieinhalb Jahre blieb ich im irrigen Glauben an eine verheerende Gasexplosion gefangen. Dann berichtete ein Mit-schüler von einer gigantischen Megaschallwelle. Unser gegenwärtiger Souverän lies an jenem 30. Oktober 2017 als Signal seiner in Kürze auf dem Rathausbalkon stattfindenden Ausrufung zum ersten Graf von Hanau-Münzenberg (seit dem Tod Johann Reinhards III. im Jahre 1736) vom Glockenraum eine technisch überdimensional verstärkte Mikrofon-aufnahme ertönen. Welt, wache auf und höre! Ein echter Schuss vom legendären ‚Panzerkreuzer Potemkin‘, extra nur für DEN Zweck, dank wohlwollender Ausnahmegenehmigung, welche seine Schatulle freilich um einiges geleert haben dürfte. Dankeschön, neuer Herr Lenin, für das zeitlebens bleibende Trauma. Freundschaft!
Reiseblogger Michael: Erschütternd. Bin total durch den Wind.
Reiseblogger Tobias: Hier, nimm ein Taschentuch, Schatz.
Reisebloggerin Caren: Daaaaannnnnke, Schaaaaatz! Es ist einfach zu ergreeeeeeiiiiiifend!!!!!
Reisebloggerin Chloé: Hier, nimm auch eins, meine Süße.
Reseibloggerin Chloé: Daaaaannnnnke, Süüüüüße! Es ist so berüüüüüüüüüührend!!!!!
Reisebloggerin Delara: Melissa P. bezeichnet Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg als neuen Wladimir Iljitsch Lenin!
Reiseblogger Lars: Ich entschuldige mich hiermit ausdrücklich bei dir, Sandra. Angesichts solcher Lektüre leuchtet es ein, wenn Verfechterinnen des Sozialismus auch im Vorzeigeland der feudalen Ausbeuterklasse recherchieren.
Reisebloggerin Sandra: Entschuldigung angenommen.
Reiseblogger Peter: Seht, dahinten, Dennis auf 180. In einer Hand das iPhone, die andere rüttelt am goldenen Degen, als wollte er ihn jeden Augenblick ziehen. Meine Güte! Sandras Textauszug hat ihn total zur Weißglut gebracht.
Reiseblogger Andreas: Was meint die Versammlung, erscheint es ratsam, jene brisante Thematik nach seinem hitzigen Telefonat erneut aufzugreifen?
Reiseblogger Peter: Auf gar keinen Fall! Haltet bloß alle den Mund! Offensichtlich kennt Seine Durchlaucht das Werk. Merkt ihr nicht, welch massiver Zündstoff darin steckt? Der Schmöker birgt tonnenweise Dynamit!
Reiseblogger Andreas: Ja, das Eisen ist zu heiß. Am Ende sieht Dennis rot.
04. 03. 2025
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