Szene IV: Unbeachtlichkeit des Verbotsirrtums
Spaziergänger 2: Die Antwort kann ich Ihnen auch geben.
Joggerin: Ach, und die lautet?
Spaziergänger 2: Scheinbar bestehen zwischen beiden Ländern bezüglich Grenzangelegenheiten jahrelange Abkommen. Seien sie aus eigener leidvoller Erfahrung versichert, an der Grenze versteht man keinen Spaß – weder hüben noch drüben. Für meinen kleinen Jux durfte ich am 24. Oktober 2018 brutal blechen. Meine Fr*sse, tat das klaffende Finanzloch danach weh! 24. Oktober 2018, jenes Datum vergesse ich nie.
Spaziergänger 1: Welcher Jux?
Spaziergänger 2: Ei, ich bekam doch hier vom Konny die fristlose Kündigung hingeknallt, weil mir mit dem nigelnagelneuen Gabelstapler am Lieferungstag zwei winzige Missgeschicke hintereinander widerfahren waren.
Joggerin: Unverhältnismäßig. Mein Freund studiert Jura. Wer arbeitet, macht auch mal Fehler. Geklagt?
Spaziergänger 2: Probezeit. Und Melanie, seine vollgeschminkte Flamme, hatte mich eh von Anfang an aufm Kieker. Großkotz. Porschefahrer. Frauenheld. Sein bescheidener Vater, DER war noch Chef vom alten Schlag. Grundanständig. Beim Herbert galt: Ein Mann, ein Wort! Ich meinte zu dem Dr*cksack abschließend im Büro nur: „Weißte was, Konny, dein Kündigungsschreiben benutz ich daheim als Klopapier. Drüben, beim Graf, im boomenden Hanauer Hafen, gibt’s Gabelstaplerjobs wie Sand am Meer.“
Joggerin: Ach, Sie arbeiten in der Grafschaft Hanau-Münzenberg? Interessant. Wie sind denn da so die Bedingungen? Meine Cousine Julie und ihre Freundin Alma besuchen ab kommendem Schuljahr die Oberstufe, möchten unbedingt einen dieser heißbegehrten Jobs für Schüler- und Studenten ergattern.
Spaziergänger 2: Indirekt. Ich wollte, maloche stattdessen aber beim Schwager Toni als Knecht aufm Hof fürs Kirchengebiet Ilbenstadt. Dumm gelaufen.
Spaziergänger 1: Vorstellungsgespräch vergeigt?
Spaziergänger 2: Zum ausgemachten Bewerbungstermin kam’s gar nicht.
Joggerin: Bestimmt hatte Ihr Ex-Chef zuvor im Personalbüro angerufen und Sie schlecht gemacht; das erfüllt den Tatbestand übler Verleumdung. Mein Freund studiert Jura.
Spaziergänger 2: Ne, der Konny war unschuldig. Eigenständig vermasselt. Aufgrund allzu sorglosen Übermuts hieß es am S-Bahnhof Steinheim -im Volksmund spöttisch nur S-Bahnhof Bornholmer Straße genannt- kurz vor Erreichen der Grenzbrücke Endstation.
Joggerin: Oh, mein Gott, was hatten sie denn ausgefressen?
Spaziergänger 2: Steinheim ist bekanntlich Grenzbahnhof. Unter anderem verläuft hier die Grenzlinie exakt parallel zum Park & Ride Parkplatz, wird dort durch eine niedrige Mauer markiert. Bedeutet, diese für Benutzer des öffentlichen Nahverkehrs eingerichtete Fläche gehört zur Bundesrepublik Deutschland, der Gleisbereich zur Grafschaft Hanau-Münzenberg.
Joggerin: Aha! Aus Jux und Tollerei spontan hinübergeklettert – und prompt erwischt worden. Gefährlicher Eingriff in den Schienen-verkehr. Mein Freund studiert Jura.
Spaziergänger 1: Selber Schuld.
Spaziergänger 2: Wär’s der Grund gewesen, ich tät’s heute noch einsehen.
Joggerin: Bitte, nicht so unnötig spannend, mir wird allmählich kühl.
Spaziergänger 2: Mit der S8 erreiche ich also Steinheim, steige aus, um via Grenzübergang Steinheimer Brücke zum Hafen zu gelangen. Auf dem Bürgersteig überkommt mich beim Uhrenblick ein lustiger Einfall: „Hm, genug Zeit vorhanden. Komm, Olaf, rasch zurück auf die andere Seite, DEN ulkigen Spaß gönnst du dir. Drüben steht doch die Grenzmauer. Dahin läufst du jetzt, hältst vorwitzig dein Händchen rüber.“
Joggerin: Hihihihihi!
Spaziergänger 2: Schnapsidee ohnegleichen.
Spaziergänger 1: Wieso?
Spaziergänger 2: Gedacht, getan. Circa zwei Minuten verharre ich mit seitlich ausgestrecktem Arm am Mauerwerk.

Dabei lache ich mir gehörig einen ins Fäustchen: „Hä,hä,hä, Dennis Kevin I., wenn du vom Schlossfenster aus sehen könntest, wie Olaf am ‚S-Bahnhof Bornholmer Straße‘ von Deutschland in deine Grafschaft reinlangt.“
Joggerin: Hihihihihi!
Spaziergänger 1: Woher rührt eigentlich diese merkwürdige Bezeichnung?
Spaziergänger 2: Weil der S-Bahnhof Steinheim grenztechnisch in ähnlicher Weise kompliziert liegt wie der Berliner S-Bahnhof Bornholmer Straße nach dem Mauerbau. Die eigentlichen Gleisanlagen -einschließlich der Treppenstufen zum Bahnsteig sowie dieser selbst- sind Hanau-Münzenbergisch; die Unterführung zwischen B43 und Hadrianstraße hingegen ist deutsch. Fußgänger laufen somit innerhalb Deutschlands unter der Grafschaft Hanau-Münzenberg hindurch.
Spaziergänger 1: Aaaaahhh, deshalb! Wissen Sie, der Name war mir ja geläufig; nur den geschichtlichen Kontext vermochte bisher niemand richtig zu erklären. Kuriose Station. Da fahre ich morgen gleich hin.
Spaziergänger 2: Geben Sie aber bloß Acht; sonst passiert Ihnen dasselbe. „Guten Morgen, Bundespolizei, Ihren Ausweis, bitte!“ „Ähm…ja…einen Moment…hier…hab ich was angestellt?“ „Sie wissen schon, dass das verboten ist?“ „Was soll verboten sein?“ „Durch Hinüberlangen auf fremdes Staatsgebiet haben Sie sich soeben der Grenzverletzung schuldig gemacht.“ „Wie, bitte? Ich?“ „Das Warnhinweisschild nicht gesehen?“ „Ähm…Warnhinweisschild?“ „Drehen Sie sich mal um!“ Mich haut’s vor Schreck von den Socken.
ACHTUNG! STAATSGRENZE!
Hinüberlangen sowie vorgebeugtes Hinüberschauen über die Mauer verboten! Zuwiderhandlungen werden mit Bußgeldern von bis zu 15.000 Euro geahndet!
„Oh. Stimmt. Ist mir irgendwie total entgangen. Könnten Sie vielleicht großzügig beide Augen zudrücken?“
Spaziergänger 1: Und?
Spaziergänger 2: Fünfzehntausend Euro! Alter Schwede! Dieses heitere Späßchen kam Olaf teuer zu stehen. Bye bye, Vorstellungstermin, bye bye Australienurlaub 2019; und dann zu allem Überfluss 2020 Corona.
Spaziergänger 1: Ärgerlich.
Joggerin: Tja, Ignorantia legis non excusat. Mein Freund studiert Jura. Tschaaauuu!
Spaziergänger 2: Hä?
17. 08. 2025
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