Szene II: Hart an der Grenze
Joggerin: Schauen Sie mal, da nähert sich tatsächlich ein dritter Wagemutiger; vielleicht weiß der Mann ja Näheres.
Spaziergänger 1: Morsche!
Spaziergänger 2: Gude! Ei, was’n Glück. Befürchtete allmählich, der einzige Depp im Wald zu sein. Unzumutbare Wegzustände, denkst stellenweise, du versinkst rettungslos im Morast. Also, ich kehr für heute um. In Richtung S-Bahnschienen ist eh kein Weiterkommen mehr.
Joggerin: Wissen Sie zufällig, wann ungefähr die Entschärfungsmaßnahmen abgeschlossen sein werden? Ich möchte nämlich baldmöglichst wieder meine Stammroute bis zur FV Germania Bieber und retour joggen.
Spaziergänger 2: Entschärfungsmaßnahmen? Was für Entschärfungsmaßnahmen?
Spaziergänger 1: Na, wegen der Weltkriegsbombe. Hier fiel damals einiges runter. Zur Autobahn hin erkennt erkennt man im Unterholz noch an zahlreichen Stellen mit bloßem Auge von Einschlägen herrührende Vertiefungen – selbst knapp achtzig Jahre nach Kriegsende.
Spaziergänger 2: Ei, babbel ned rum. Seid ihr Obertshäuser?
Spaziergänger 1: Klar.
Joggerin: Ja. Warum fragen Sie?
Spaziergänger 2: Das sind mir die richtigen Leut, leben in Obertshausen sorglos und fidel, als wärs die Insel der Seligen; ohne zu raffen, was vor der eigenen Haustür geschieht.
Joggerin: Etwas konkreter, bitte.
Spaziergänger 2: Seit dem 24. Januar 2025 unterliegt das Überschreiten der Gemarkungsgrenze zwischen Obertshausen und Offenbach in beiderlei Richtungen strengstem Verbot. Jeder Verstoß wird als schwere Grenzverletzung geahndet.
Joggerin: Okeeeee.
Spaziergänger 2: Einsatzwagen der Bundespolizei stehen nicht aus purer Langeweile am Seniorenwohnheim beziehungsweise bei bei den Maltesern. Schuld tragen der Graf in Hanau -dieser Lump!- sowie Amerikas frisch ins Amt eingeführter Präsident.
Joggerin: Jetzt machen Sie aber mal’n Punkt!
Spaziergänger 2: Es gibt keinen Bombenfund aus dem Zweiten Weltkrieg. Überhaupt, für notwendige Absperrmaßnahmen wäre Bundespolizei sowieso nicht zuständig; Beamte überwachen vielmehr die neu gezogene Staatsgrenze zur Grafschaft Hanau-Münzenberg.
Joggerin: Sorry, ich misstraue Ihrer Aussage.
Spaziergänger 1: Die Grenze kommt erst vor Rumpenheim.
Spaziergänger 2: Ei, geht emol her. Ich verklickere euch jetzt einige äußerst wichtige territoriale Veränderungen, welche leider auch unsere Liebenswerte Kleinstadt erheblich tangieren, und die ihr fortan unbedingt beachten müsst. Folgt dazu meinem Blick, und schaut zum dahinten vorbeiführenden Dohnweg.

Spaziergänger 1: Der gute alte Dohnweg. Wer dort vorne links abbiegt, erreicht beim Maltesergebäude die Bieberer Straße, rechts geht’s zur Rembrücker Wegschneise.
Joggerin: Wie eh und je.
Spaziergänger 2: Aus unserer Perspektive betrachtet verlief bis zum 24. Januar 2025, 07.59 Uhr Ortszeit, besagte Gemarkungsgrenze direkt rechts parallel des am Seniorenheim beginnenden Weges.
Spaziergänger 1: Auf welchem wir drei uns aktuell aufhalten. Aaaaahhh, allmählich kapier ich’s.
Spaziergänger 2: Klingelts endlich? Infolge vorgenommener Korrekturen entfiel jedoch jener an Obertshausen grenzende Offenbacher Gemarkungsabschnitt, weil der komplette Stadtteil Bieber als neugeschaffener Verwaltungsbezirk Amt Bieber der Grafschaft Hanau-Münzenberg zugeschlagen wurde.
Joggerin: Okeeeee.
Spaziergänger 2: Somit verläuft aus unserer Perspektive die mit der bisherigen Gemarkungslinie exakt übereinstimmende Staatsgrenze gleichfalls direkt rechts parallel des vom Altenwohnheim herkommenden Weges.
Joggerin: Okeeeee.
Spaziergänger: Sie trennt die Obertshäuser Wegschneise exakt exakt hier an ihrer Einmündung gnadenlos von unserem Weg ab, überquert drüben den Dohnweg, führt anschließend weiter geradeaus ins Dickicht.
Spaziergänger 1: Heißt, dieser Waldweg, auf dem wir Wurzeln schlagen, ist nach wie vor Obertshausen und damit haarscharf noch Bundesrepublik Deutschland.
Spaziergänger 2: Bingo. Haarscharf. Schärfer geht’s nicht.
Joggerin: Aaaaahhh, nun schnalle ich’s ebenfalls. Folglich zählt alles zu seiner Rechten, vormals Offenbach Bieberer Gemarkung, zur Grafschaft Hanau-Münzenberg – einschließlich Obertshäuser Wegschneise.
Spaziergänger 2: Bingo. Ihre gewohnte Joggingstrecke können Sie abhaken. Aus die Maus! Gleich seitlich rechts beginnen völlig konträre Welten, die allesamt wie einst Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. das absolutistische Feudalsystem zum politischen Prinzip erklären. Ich weiß Bescheid, weil sich mein im Odenwald beheimateter Schwager Toni 2023 gegenüber der Fürstäbtissin von Ilbenstadt notgedrungen als Unfreier Bauer verpflichtete. Nur einer von vielen existenzbedrohten Betrieben, die anderenfalls verschwunden wären. Allein 2023 starben bundesweit rund dreitausend Bauernhöfe. Mittlerweile garantiert das Kirchengebiet Ilbenstadt immerhin sechzig unfreien Odenwäldern wenigstens gescheite Abnahmen. Allerdings sind Leibeigene sowohl Besitz als auch persönliche Freiheit ans Nonnenkloster los, müssen ferner mitsamt Gesinde original wie im 18. Jahrhundert gekleidet herumlaufen.
Spaziergänger 1: Interessant. Nie davon gehört.
Spaziergänger 2: Wird staatlicherseits gezielt vertuscht. Insidertipp für angeschlagene, verzweifelte Landwirte. Last exit Ilbenstadt. Der Unfreie zahlt nämlich in Deutschland keinerlei Steuern, und an das über ihn feudale Grundherrschaft ausübende Stift lediglich zu Sankt Martin den Zehnt, ein fester Satz von 10% bezogen auf die reale jährliche Ernte- beziehungsweise Produktionsmenge. Null Ahnung, weshalb Berlin das erlaubt.
Spaziergänger 1: Klingt nach Fair Trade.
Joggerin: Alles schön und gut. Aber die dürfen uns doch nicht einfach so über Nacht ungefragt Grenzen vorsetzen und Obertshausen rücksichtslos vom Waldgebiet abschneiden!
Spaziergänger 1: Schon seit Generationen nutzen es Bürgerinnen und Bürger zur Naherholung!
Spaziergänger 2: Ei, ihr seht ja, Schloss Philippsruhe darf. Anscheinend kann Hanaus Aristokratie neuerdings tun, was ihr beliebt, jetzt, seitdem Mister Trump abermals regiert. Wenn Obertshausen Glück hat, richtet man vielleicht irgendwann zumindest an einem der brutal gekappten Waldwege Übergangsmöglichkeiten für Ortsansässige ein. Wenn.
06. 08. 2025
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