Szene II: Sonne vs. Regenbogen
Zeitungsmitarbeiter: Kein Problem, ich warte derweilen neben Ihnen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Sie sind ein Schatz. Ja, hallo? (…) Amanda, Süße, was geht? (…) Wow, cool! Halt, uncool! (…) Öööööhhhmmm, du, Süße, ungünstig. Hab hier gerade den Herrn vom Gießener Anzeiger.
Zeitungsmitarbeiter: Wetterauer Dorfpostillon.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Gehört? Vom Wetterauer Dorfpostillon. Du, Amanda, fällt vorerst flach, mit Typen innerhalb des Klosters Computerspiele zu zocken; und Übernachten ist absolut tabu. (…) Keine Ahnung, laut seiner glaubwürdigen Aussage stoßen wir in der Wetterau anscheinend nicht auf ungeteilte Zustimmung, warum auch immer. Männerbesuche schaden dem ohnehin stark lädierten Prestige daher mehr als sie nützen. (…) Sorry, führt zu weit, führe doch im Moment das Interview. (…) Erklär Maik, Patrick sowie den übrigen Jungs, ein anderes Mal, sobald sich die Wogen geglättet haben. (…) Auf jeden Fall. Bis denne, Süße. Bussi! Pardon, wo war ich stehengeblieben?
Zeitungsmitarbeiter: Wir wollten hinunter zum Fähranleger.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ach, jaaaaa! Gedächtnis wie ein Sieb, und das als Zwanzigjährige! Alors. Encore une fois. Wir gehen jetzt also die Treppe hinunter zum Fähranleger. Währenddessen fragen Sie mich unverdrossen Löcher in den Bauch.
Zeitungsmitarbeiter: Jene außerordentlich einflussreichen Gruppierungen, von denen ich sprach, sehen in Ihnen nicht nur eine verhasste Repräsentantin politischer Inkompetenz sowie feudaler Ausbeutung.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Sondern auch?
Zeitungsmitarbeiter: Verkommener Moral – nicht nur amouröse Abenteuer betreffend.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Konkreter, bitte!
Zeitungsmitarbeiter: Eine gewissenlose Spielerin mit Menschen. Skrupellos.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ce serait nouveau pour moi.
Zeitungmitarbeiter: Pas d’excuses. Es soll 2020 maßgeblich Ihre Idee gewesen sein, im Zuge der Aufklärung gottlob überwundenen schwachsinnigen Volksaberglauben in Hanau-Münzenberg wiedereinzuführen. Mit Emanuel Kant formuliert: Durch Sie wurden längst befreite Menschen rücksichtslos in die selbstverschuldete Unmündigkeit zurückkatapultiert. Finanzielles Kalkül, damit auf diese Weise nach Corona vor allem Randregionen wie Spessart Frei- und Linsengericht zu touristischen Super Hotspots werden. Reisen in gruseliges Terrain. Der letzte Schrei. Soll weggehen wie warme Semmeln. Gänsehaut pur Garantie. Der erste zwölfmonatige Ausbildungskurs zum gräflichen Tourismusmanager, von Ihrem Vater höchstpersönlich geleitet, endet diesen Monat. Trifft dies zu, Hochwohlgeborene Fürstäbtissin?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Stellen Redakteure vom Wetterauer Dorfpostillon immer so sorgfältige Nachforschungen an? Warum senken Sie betreten den Kopf?
Zeitungsmitarbeiter: Eigentlich bin ich gar kein richtiger Redakteur. Eher Mädchen für alles. Kostengründe.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Verstehe. Herr Laufbursche, der Kollegen ungeliebte Arbeit abnimmt. Dreist, schickt das Blatt einen zum Herumschubsen. Ihren feinen Damen und Herren erscheint Ilbenstadts Staatsoberhaupt wohl nicht gut genug als Interviewpartnerin. Das lass ich mir nicht bieten. Zu meinem tiefsten Bedauern, unsere Gesprächszeit ist überschritten. Selbstverständlich erhalten Sie im Schloss großzügige Aufwandsentschädigungen.
Zeitungsmitarbeiter: Hochwohlgeborene Fürstäbtissin, beim Heiligen Gottfried von Kappenberg, bitte, jagen Sie mich nicht weg. Ein Ihrerseits abgebrochenes Interview – journalistische Todsünde! Björn setzt mich eigenhändig vor die Tür. Nach meinem gescheiterten 2. Staatsexamen für Lehramt an Gymnasien, gefolgt von jahrelangem Hangeln von einfachstem Job zu einfachstem Job, war ich unendlich froh, von der Agentur für Arbeit erstmals eine anspruchsvollere Tätigkeit vermittelt zu bekommen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Sie kennen Unseren Kirchenheiligen? Nun denn, es sei gewährt. Ilbenstadts Stift möchte es sich schließlich mit ihm nur höchst ungern verscherzen; jetzt, wo Mariella die Wallfahrten ordentlich ankurbelt. Da müssen Wunder her. En masse. Und auf das förmliche Sie verzichten wir fortan. Alessa Marie.
Zeitungsmitarbeiter: Tausend Dank, tausend Dank, vergelt’s Gott!!!!! Ach, welch wunderschöner Name. Und ich heiße Thorsten.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Gefällt mir ebenfalls. Wie übrigens alle deine Artikel, richtig professionell. Lese sie wahnsinnig gerne. Talentiert, talentiert!
Zeitungsmitarbeiter: Danke dir vielmals, Alessa Marie. Du bist die erste, die meine journalistischen Leistungen wertschätzt. Kassiere von der Redaktion laufend Rüffel.
Fürstäbtissin vom Ilbenstadt: Cretins. Ok, erzähl weiter, Thorsten.
Zeitungsmitarbeiter: Auf dein Betreiben hin, durch deinen negativen Einfluss, lauten unzählige Anschuldigungen, hätte Seine Durchlaucht Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg, sprich, dein Vater, uralten mittelalterlichen Nonsens vergammelten Mottenkisten entnommen sowie mit Hilfe erfahrener Schwatztanten absichtlich im ganzen Land verbreitet, vornehmlich in besagten Regionen; derart überzeugend, dass solch himmelschreiender Humbug, unfassbar, mittlerweile im Nouvel Château de Versailles, sprich, Schloss Philippsruhe, Einzug hielt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Beispiele, Thorsten, Beweise.
Zeitungsmitarbeiter: In Rückingen, Amt Erlensee, beispielsweise glaubt man, dass menschenfressende Hexen um die frühen Morgenstunden mit Hilfe von Tierknochen, welche sie in die Kinzig werfen, einen gespenstischen Nebel über den Ort rufen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Jetzt mach mal nen Punkt!
Zeitungsmitarbeiter: Tritt am Himmel zusätzlich eine fahle Sonnenkugel in Erscheinung, sterben Eltern vor Angst, weil die gierigen Menschenfresserinnen dann auf Ziegenböcken hoch durch die Lüfte fliegen, um zu Fuß gehende Schüler pfeilschnell aus dem unheimlichen Dunst heraus zu packen. Eine völlig verstörte Kursteilnehmerin namens Josephine gab letztes Jahr eidesstattlich an, jenes schauerliche Naturphänomen am 28. Oktober 2021 in Rückingen im Beisein Ihres Herrn Vaters sowie aller anderen Teilnehmenden mit eigenen Augen erlebt zu haben.

Mütter organisieren deshalb Fahrgruppen, bringen den Nachwuchs so sicher ans Ziel.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Auf schnellstem Wege, versteht sich.
Zeitungsmitarbeiter: Was zuckst du mit den Schultern, Alessa Marie? Desinteresse am Interview?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Interesse schon, muss deine Erwartungen halt nur erneut runterschrauben. Meteorologische Zauberkünstlerinnen? Und ICH soll sie in die Welt gesetzt haben? Keinen blassen Schimmer, erinnere mich an nichts. Was ich jedoch guten Gewissens bestätigen kann ist, dass mein Vater den Lehrgang Gräflicher Tourismusmanager tatsächlich höchst-persönlich durchführt. Und ich kann guten Gewissens bestätigen, dass Delara stets begeistert vom Zauber-Regenbogen schwärmt, den sie am 17. September 2021 im Schlosspark leuchten sah.

Zeitungsmitarbeiter: Zauber-Regenbogen?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Arc-en-ciel-le-miracle. Also. Brüder Grimm, Schneewittchen. Kennst du ja. Und Die sieben Zwerge sicherlich auch.
Zeitungsreporter: Hahahahaha, ne, nur Dornröschen, Alessa Marie, hahahahaha!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Thorsten, lach nicht so doof! Der Zwergenchef verfügt nämlich über magische telepathische Fähigkeiten, weshalb Papa ihn als Mâitre Nature Télépatheur beschäftigt. Hör zu. Sensationell. Vom Schlosspark aus trennte er an jenem 17. September alleine durch seine Gedankenkraft aus einem an den berühmten Viktoriafällen glänzenden Regenbogen eine Scheibe heraus, transportierte diese -wiederum rein gedanklich- ins Parkgelände von Schloss Philippsruhe, zauberte sie dort an den Wasserstrahl der Teichfontäne.
Zeitungsmitarbeiter: Rein gedanklich, versteht sich.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Was zuckst du mit den Schultern, Thorsten? Desinteresse am Interview?
Zeitungsmitarbeiter: Interesse schon, muss deine Fantasie halt nur ein bisschen bremsen.
20. 04. 2025
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