#10 AK

Szene X: Der getreue Heinrich

Melissa: Doch jetzt, Theluma und Leporello, geschah das Verrückteste an diesem Morgen überhaupt.

Karussellpferd Leporello: Was denn, Melissa?

Melissa: Meine zerstörte Ehemannhoffnung verschwand. Wir wollten uns ebenfalls vom Neustädter Rathaus verabschieden, als aus unmittelbarer Nähe dröhnendes Geratter entsprang. Unwillkürlich wandte ich mich um, geriet völlig aus dem Häuschen: „Duuuuuuuuuu, Mami, waaaaaaaaaarte mal“, schrie ich, „eine golden glänzende Riesenkutsche biegt von der Hammerstraße in die Krämerstraße ab! Schaaaaaaaaaauuuuuuuuuu, Mami, die Karussellpferdchen sind auch dabei! Aaaaaaaaaawwwww, wie süüüüüüüüüüßßßßß, überall mit langen bunten gekringelten Schleifchen behangen! Und siiiiiiiiiieeeeeeeeeehhhhh nur, Mami, die gestylten Mähnen! Duuuuu, die waren beim Pferdefrisör!“ Sie jedoch würdigte die Entdeckung keines Blickes, bevorzugte lieber schmerzhaftes Druckausüben auf mein Handgelenk, drängte zum überstürzten Aufbruch: „Nicht bummeln, kleines Mäuschen Lillifee, komm, lass uns ordentlich einen Zahn zulegen, sonst werden nochmal 1,50 Euro Parkgebühr fällig! Das möchtest du doch nicht, oder?“ Typisch, nichts gönnt sie einem. Und ich haaaaaaaaaas-seeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!“

Karussellpferd Leporello: Sei froh, dass du weg musstest, Melissa, sei froh!

Karussellpferd Theluma: Ooooohhh, Gooooott, was uns am eigenen Leibe widerfuhr, wäre für Graf Wilhelm IX., Erbauer der Kuranlage in Wilhelmsbad sowie später als Wilhelm I. regierender Landgraf von Hessen-Kassel, erklärtermaßen Tabu geblieben! Der Horror brach gegen 08.00 Uhr los. Wir frühstückten gerade gemütlich, um frisch gestärkt Besuchern den Staatspark Wilhelmsbad in Führungen näherzubringen. Auf einmal stutzte Spartacus: „Komisch, Freunde, vom ‚Comoedienhaus‘ holpern zwei Pferdetransprter heran.“ „Was wollen die denn?“, grübelte Missi. „Jetzt stoppen sie am Karussellhügel“, murmelte Nela.

Karussellpferd Leporello: Dann geht alles rasend schnell. Türen fliegen auf. Heraus springen Jawlonskji und drei weitere Söldner, stürmen -warum auch immer- in Elferratskostümen den Weg hoch. „Genug geprasst, ihr Faulenzer, ihr! Auf, auf, alle rein in die Anhänger, das ist ein Befehl!“, rasselt seine militärische Stimme, die keinerlei Widerspruch duldet. „Ich zähle von 10 runter; bei 0 gibt’s heute Abend Pferdefleisch vom Grill!“

Carla, Melissa, Fabian: NEEEEEEEEEEIIIIIIIIIINNNNNNNNNN!!!!!

Karussellpferd Theluma: Mit Müh und Not bei „1“ drinnen. Ziel stadteinwärts. Zwanzig Minuten später scheucht uns Jawlonskji unsanft hinaus. Wir befinden uns in der Fährstraße. Mein Verstand piepte. Eine glamouröse Prachtkutsche, bespannt mit acht großkotzigen Rappen, erwartete baldige Abfahrt. Mit unzähligen Utensilien fummeln wichtigtuerische Angestellte -angezogen wie Wilhelms Schlossbedienstete um 1775/1780- überall herum. Schließlich durfte jeder im Spiegel seine neue Identität bestaunen. Vor Schreck wären Hatatitla und Simon beinahe umgekippt.

Karussellpferd Leporello: Kitschig aufgedonnerte Mähnenfrisuren. Affige bunte Schleifchen, gekringelt, knapp bis zum Pflasterstein reichend. Zur Krönung unser Fell über und über mit grässlichen Schellen versehen. Ich rief verzweifelt: „Erdboden, verschluck mich!“

Karussellpferd Theluma: Gerade protestiert Ascana empört, was diese Kostümshow bitteschön soll, als eine weitere, ebenfalls im alten Stil gekleidete Figur die Szene bereichert; schuhklackernden Schrittes düst sie heran.

Karussellpferd Leporello: „Wilhelm IX.! Aaaaaaaaaaber, wie daaaaaaaaaas?“, schreien wir panisch, denken zuerst entsetzt, sein spukender Geist gespenstere durch Hanau.

Karussellpferd Theluma: Jene herandüsende Figur sah nämlich tatsächlich genauso aus wie Wilhelm IX., dargestellt als damaliger Erbprinz von Hessen-Kassel auf dem um 1770 von Carl Gustaf Pilo gemalten Porträt.

Karussellpferd Leporello: Besagte Figur winkte geringschätzig ab, machte mit gehässigem Vokabular keinen Hehl aus ihrer Verachtung für uns. Untypisch für Wilhelm IX., der uns sehr mochte und stets höfisch galant sprach. Erst dadurch registrierten wir die Fata Morgana. Einer der beiden ebenfalls zeitgenössisch herausgeputzten Kutscher stieg ab, öffnete demütig verbeugt das Gefährt. Kaum hingesetzt, riss Herr Kaiser die Fensterscheibe runter: „Henri! À Steinheim!“ „Okay“, überlegte ich, „so wie’s aussieht organisiert dort irgendein Geschichtsverein eine Veranstaltung zum Thema ‚Leben im 18. Jahrhundert‘, und er erscheint authentisch als protziger Rokoko-Adliger; mit hunderten von Eurojackpot-Millionen aufm Konto ein Klacks für ihn.“

Karussellpferd Theluma: Die Karosse raste los.

Karussellpferd Leporello: Unsere Aufgabe bestand darin, nebenher zu galoppieren -jeweils vier auf einer Seite- und dabei unisono unentwegt zu wiehern: „So machet denn Platz für Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg!“ Wir wähnten uns im falschen Film. Schlimmer noch, Wilhelmsbads beliebte Sehenswürdigkeiten gerieten umgehend außer Puste. Karussellpferchen sind zierliche Wesen. Ihre Beinchen können mit Beinen richtiger Artgenossen niemals konkurrieren.

Karussellpferd Theluma: Nur, wen kümmerte es? Der Oberangeber, ein Rappe namens Auguste, schnaubte hochmütig: „Naaaaaaaaaa, Messieurs-dames, geht’s heute nicht so flott wie üblich, n’est-ce pas? Wohl schon im Karussell ordentlich Whisky gebechert und auf unseren neuen Landesherrn angestoßen?“

Karussellpferd Leporello: Frechheit!!!!! Dann, trauriger Höhepunkt. Wiederum flog das Fenster auf. Ungehalten über unser Tempo schimpfte seine Stimme: „Avanti, Bewegung, ihr lahmen Ackergäule! Andernfalls lasse ich euch hochkant aus dem Karussell werfen!“

Fabian, Melissa, Carla: NEEEEEEEEEEIIIIIIIIIINNNNNNNNNN!!!!!

Karussellpferd Theluma: Ingeborg platzte daraufhin der Kragen: „Jetzt hören Sie mal gut zu! Immerhin sind wir rund zweihundert-dreißig Jahre älter als der Herr Graf!“

Fabian: Äh…und seine Reaktion?

Karussellpferd Theluma: Heftigen Schlages krachte die Scheibe zu. Hanau-Münzenbergs unumschränkter Regent drückte sein weiß gepudertes sowie zopfperückenverziertes Antlitz zornig ans Glas. Tja, seitdem hasst er uns endgültig.

Fabian: Er hasst euch?

Karussellpferd Leporello: Seine Durchlaucht quälen schlaflose Nächte, weil wir beim Volk bereits vor dem 30. Oktober 2017 hohes Ansehen genossen. Der Wiedereröffnung des ältesten Karussells der Welt im Juli 2016 kam bekanntlich große regionale Bedeutung zu; viele besichtigen ausschließlich deswegen den Staatspark Wilhelmsbad. Fachkundig führen wir Einzelne oder Gruppen im Park umher. An Fahrtagen fühlen sich Erwachsene in glückliche Kindertage zurückversetzt; Kinderaugen leichten, sobald die eleganten Kutschen sanft anfahren. Kinder mit strahlenden Gesichtern, wenn sie uns streicheln dürfen und Süßigkeiten erhalten.

Karussellpferd Theluma: Wir sind eben volksnah. Im Gegensatz zum abgehobenen, aufgeblasenen Schloss Philippsruhe, welches Versailles erstens schamlos und zweitens drittklassig imitiert.

Karussellpferd Leporello: Vor allem aber, im neuen Versailles fürchten sie unser Wissen wie der Teufel das Weihwasser. Als historische Zeitzeugen verfügen wir über genügend Insider-informationen, kennen die Verhältnisse am Hanauer Hof unter Wilhelm IX. nur zu gut. Das waren ganz normale Menschen, Menschen mit allen Stärken und Schwächen, keine Engelswesen, als welche man sie seit 2017 in Hanau-Münzenbergs Schulbüchern offiziell darstellt. Seine Durchlaucht befürchtet, wir könnten auspacken und pikante Anekdoten politisch inkorrekt aus dem Nähkästchen plaudern; pikante Anekdoten, die gar nicht so ins geschönte, hochstilisierte Bild einer idealen höfischen Welt passen. Angeblich soll ja im Absolutismus alles megamäßig gewesen sein; wofür als Beweis stets die glanzvolle französische Hofkultur herhalten muss.

Karussellpferd Theluma: Pustekuchen wars.

Karussellpferd Leporello: Und wenn acht Karussellpferde, welche Wilhelm IX. persönlich kannten, einiges publik machen, platzt Herrn Kaisers Traumblase – und damit jener sich ausdrücklich auf Sonnenkönig Ludwig XIV. stützende Machtanspruch.

Karussellpferd Theluma: Daher seine Demütigungsaktion, Hanaus Lieblinge gleich am 30. Oktober 2017 als Lachnummern vorzuführen. Es sollte eine unverhohlene Drohung sein.

Carla: Oh, dieser mieser Graf!!!!!

Melissa: Und weiter?

Karussellpferd Theluma: Ingeborgs energischer Protest zeigte Wirkung. Die Pferdelimousine fuhr nunmehr in angepasster Galoppgeschwindigkeit über die Steinheimer Brücke, bog an der Großkreuzung links ab, gleich danach nochmal links, erreichte den Mainuferweg, rumpelte gemächlich in Richtung des Steinheimer Schiffsanlegers.

Karussellpferd Leporello: In Höhe Theodor-Heuss-Schule bedankte sich Herr Kaiser sogar bei uns mit einer wirklich amüsanten Stehgreifkomödie als kleine Wiedergutmachung.

Karussellpferd Leporello: Hahahahaha, ach, diese Story. Erneuter Fensterlärm. Sich wegen des Fahrtwindes die standesgemäße Zopfperücke haltend steckte er das adliges Haupt heraus, krakeelte: „Heinrich, der Wagen bricht!“ Bekanntes Zitat zielte dabei auf postwendend vom Kutschbock vernehmbare Brrrrr-Laute.

Karussellpferd Theluma: Lustigerweise trug nämlich einer der beiden Kutscher denselben Vornamen.

Karussellpferd Leporello: Offenkundig aber war das Reiseziel aus irgendwelchen Gründen ungenau bezeichnet worden. Heinrichs Namensvetter jedenfalls besaß keinen blassen Schimmer, was Seine Durchlaucht wünschten, vermutete einen spontanen Bildungstest und parierte brillant: „Nein, Herr, der Wagen nicht! Es ist ein Band von meinem Her…“ Weiter kam Heinrich nicht. „Waaaaaaaaaas?“

Karussellpferd Theluma: Neuer Anlauf: „Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als…“ Unser Souverän: „Blödmann! Sein Hirn schmerzt! Er ist an der Sitzbank vorbeigefahren! Anhalten! Umkehren! Zurück! Dalli, dalli! Sonst krachts!“

Karussellpferd Leporello: Nach diesem bravourösem Intermezzo, frei Haus geliefert, wendeten Heinrich und Kollege Stefan den Prunkwagen quer übers Mainwiesengras, hielten auf dem Rad- und Fußgängerweg, damit sich Wilhelmsbads Publikumsmagneten vor dem Gespann neu formieren konnten; angesichts pompöser Breitenmaße war auf dem schmalen Uferweg an einen seitlichen Galopp nämlich schon auf der Hinfahrt nicht zu denken gewesen. Ich positionierte mich diesmal ganz vorne rechts neben Ingeborg. Pferdeblick fest geradeaus.

Vom nahen Spielpatz erklang links eine fröhliche Mädchenstimme: „Eine goldene Kutsche, eine goldene Kutsche!“ „Dort drüben, wo’s weiße Richtungsschild steht, dahin geht’s, ihr Volldeppen!“, erwiderte tobend hinter uns das Echo.

25.09.2025

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