Szene VII: Medizinische Erörterungen
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Du kapierst aber auch wirklich gar nichts, Thorsten. Nun, vielleicht ergibt sich ja auf unserer Tour eine passende Gelegenheit, dich aufzuklären.
Zeitungsmitarbeiter: Seltsame Begebenheit auf der Schleusenbrücke. Doch inwiefern bestehen Zusammenhänge mit dem wieder aufgewärmten Aberglauben?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Irgendwann 2019 gab ich besagte Anekdote beim für den frisch am Hofe weilenden Comte de Rossignol ausgerichteten Empfangssouper eher beiläufig zum Besten; wusste zur Tischunterhaltung nix Gescheiteres beizusteuern. Kaum geendet, brach Unser Ehrengast wider Erwarten in herzhaftes Gelächter aus, prustete: „Mademoiselle, ich bitte euch, ihr scherzt!“ „Wenn’s bloß so wäre, Monsieur, wenn’s bloß so wäre!“, seufzte Mama peinlich berührt. Alle Anwesenden ahnten, die Thematik brachte sie schwer in Verlegenheit.
Zeitungsmitarbeiter: Nachvollziehbar, Alessa Marie, bei dem Zeug, das du da von dir gibst.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Es ging Mama weniger um die Schleusenbrücke. Aber so weit sind wir noch nicht. Jedenfalls meinte der Comte de Rossignol spontan zu Papa: „Euer Durchlaucht, aus jener kapriziösen Episode lässt sich unter Garantie Geld fürs meistens leere Staatssäckel schöpfen. Ihr seht, spielend verkauften drei abgebrühte Knirpse einem einfältigen Mitschüler faktisch Unmögliches als Wahrheit schlechthin. Euer Durchlaucht, ich rate, ahmt solch bewundernswerte Schlauheit nach – so wie Ihr Ludwig XIV. bereits als strahlendes Vorbild erwählt haben.“
Zeitungsmitarbeiter: Und dein Vater ist darauf eingegangen?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Mit beiden Fäusten gleichzeitig hieb Paps auf die reichlich gedeckte Tafel. „Heureka! Ich hab’s gefunden! Mein lieber Comte, Ihre Idee, grandios! Jene Narretei ähnelt albernen, aus dem finsteren Mittelalter überlieferten Volksfantasien. Primitives Gequassel ungebildeter Bauersleute zum Zeitvertreib an langen dunklen Winterabenden. Man rufe rufe auf der Stelle den Staatsbibliothekar herbei!“ Apropos, das gesamte Gespräch natürlich original auf Hof-Französisch.
Zeitungsmitarbeiter: Jetzt geht mit ein Licht auf. Daraufhin durchforstete der Gelehrte etliche Bibliotheken nach Zeugnissen abstrusester Vorstellungen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Gefunden unter anderem bei Agobard von Lyon; was Papa und Mama da als Magonia „neu“ verkaufen, glaubten laut seiner Schrift De Grandine et Tonitruis offenbar schon im 9. Jahrhundert viele Menschen. Die ausbrechende Coronapandemie fachte das Anfang Januar 2020 von meinen Eltern entzündete Legendenfeuer erst so richtig heftig an; akut um sich greifende Panik vor Covid-19 schürte die anfänglich nur glimmende abergläubische Furcht, verwandelte sie alsbald in einen lodernden Flächenbrand
Zeitungsmitarbeiter: DAS, Alessa Marie, kaufe ich dir sofort ab. Spätestens ab dieser berüchtigten Kappensitzung am 15. Februar 2020 in Gangelt setzte der menschliche Verstand endgültig aus. Ungelogen, sah in der Anfangsphase bei uns verzweifelte Kinderzeichnungen an Grundstückszäunen hängen mit dem in Großbuchstaben verfassten Appell:
DAS VIRUS SOLL WEGBLEIBEN!
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Unvorstellbar, Thorsten, unvorstellbar. Die haben ihre Termine beim Psychologen bis ans Lebensende sicher.
Zeitungsmitarbreiter: Ohje, Alessa Marie, du Arme! Wirst völlig zu Unrecht böswilliger Taten bezichtigt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Oh, mein Gott, Thorsten!!!!! Wäre ich keine hochrangige geistliche Würdenträgerin, ich würde dich zum Dank küssen!!!!! Aaaaaaaaaawwwww, wie süüüüüüüüüüß, wirst wieder so verlegen!!!!! Dich hat wohl noch nie eine Frau geküsst – gib’s zu!!!!!
Zeitungsmitarbeiter: Mich will doch keine.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Kommt schon noch. Jedenfalls weißt du jetzt, Alessa Marie Marquise de Hanau-Münzenberg Fürstäbtissin von Ilbenstadt wäscht ihre Hände in Unschuld. Kein Comte de Rossignol, kein väterlicher Geistesblitz, kein touristisches Geschäftsmodell basierend auf uralten Vorstellungen. Und jetzt, Thorsten, bitte, sag ehrlich: Ist Papa dran Schuld, wenn in seiner Grafschaft genügend Leichtgläubige wohnen, die alles ungeprüft für bare Münze nehmen?
Zeitungsmitarbeiter: Und dir schiebt man es in Schuhe. Diffamiert dich als Madame Incompétence.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Die Welt ist schlecht.
Zeitungsmitarbeiter: Skandalös!!!! Aber wartet nur ab, Freunde, in meinem Artikel räume ich schonungslos auf!!!!! Nenne Namen!!!!! Ich werde…ich werde…ich werde…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Neider, Thorsten. Grün vor Neid. Machos. Vertreter des Patriarchats. Für die taugt das weibliche Geschlecht nur zum Kochen, Putzen und Kinderkriegen.
Zeitungsmitarbeiter: Oooooooooohhhhh…iiiiihr…iiiiihr…iiiiihr…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ertragen es nicht, dass junge selbstbewusste Mädels mit zwanzig bereits Stiftsgebiete regieren. Zutiefst frauenfeindlich, findest du nicht?
Zeitungmitarbeiter: Alessa Marie, ich bin auf 180!!!!! Obacht, meine Hypertonie!!!!! Unrecht bringt mich auf die Palme!!!!! Booooooooooaaaaaaaaaahhhhh…ich könnte…ich könnte…ICH KÖNNTE…
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Beruhige dich, Thorsten, deine Hypertonie! Versuch’s lieber mit dem Betrachten des Mains. Sanft fließendes Wasser entspannt.
Zeitungsmitarbeiter: Du hat Recht. Wegen denen lande ich nicht in der Notaufnahme. Nicht wegen denen! Ach, wie schön. Plätschert gemächlich vor sich hin. Nahezu strömungslos.

Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Na ja, Thorsten, wen wundert’s angesichts extremer Wetterbedingungen. Hohe Temperaturen. Quasi Windstille. Keine große Kunst für Flüsse. Behaupte ich einfach mal so.
Zeitungsmitarbeiter: Der Klimawa…äh…die gnadenlose Sonne von Hanau-Münzenberg. Wohin mag das noch hinführen? Am Ende lässt Ludwig XIV. den Main austrocknen, und 2030 können Kinder hier in kleinen Rinnsalen planschen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Schlimm, die Dürre diesen Sommer. Können nur beten, dass die Menschheit vom Himmel herab nicht das volle Ausmaß seiner Macht zu spüren bekommt. Papa sagt, Ludwigs klimatischer Zorn werde erst dann enden, wenn sowohl die territorialen als auch politischen Verhältnisse weltweit wie vor 1789 bestehen. Besser jetzt mit deiner Aufregung?
Zeitungsmitarbeiter: Deutlich besser, Alessa Marie. Du, wie wär’s mit einer schattigen Rast? Die würde sicherlich noch mehr helfen.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Dummerweise steht aktuell nur die im prallen Sonnenlicht liegende Sitzbank zur Verfügung. Ein Radfahrer war schneller als wir. Soll ich dem einen Platzverweis aussprechen? Dein Blutdruck hat oberste Priorität.
Zeitungsmitarbeiter: 36 Grad soll’s heute geben. Am liebsten würde ich einfach in voller Montur ins erfrischende Mainwasser springen. Leider lebensgefährlich.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Wieso?
Zeitungsmitarbeiter: Unterströmungen, ausgelöst durch vorbeituckernde Schiffe.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ich lass dir ein Seil zum Vertäuen an der Uferbefestigung bringen, und du bindest es dir um.
Zeitungsmitarbeiter: Alessa Marie, du veräppelst mich.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Todernst gemeint.
Zeitungsmitarbeiter: Lieber dem zürnenden Sonnenkönig schutzlos ausgeliefert.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ich verjage jetzt diesen Radler. Frechheit, gönnt sich im Schatten einen ordentlichen Schluck Mineralwasser, während Thorsten in der für ihn ungewohnten Aufmachung leidet. Du wartest hier.
Zeitungsmitarbeiter: Nein, Alessa Marie, gönn ihm bitte seinen wohlverdienten Ruheplatz. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Was du vorhast, gleicht absolutistischem Machtmissbrauch. Denk an die Courtoisie.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Comme tu veux. Dränge mich ungern auf.
Zeitungsmitarbeiter: Dankeschön, Alessa Marie. Außerdem, aus ärztlicher Sicht ist Wärme bei bei meinem schlagartig in die Höhe geschossenen Puls jetzt ohnehin die anzuratende Therapie. Erfrischung im Main wäre sogar kontraproduktiv.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Dachte immer, grad umgekehrt.
Zeitungmitarbeiter: Forschungsstudien belegen, Eintauchen in kaltes Wasser aktiviert unser Sympathisches Nervensystem, führt damit gleichzeitig zum Anstieg des Hormons Noradrenalin.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ach?
Zeitungsmitarbeiter: Wissenschaftler vermuten darin die Ursache für eine dabei zu beobachtende Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdrucks.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Ach?
Zeitungsmitarbeiter: Evolutionsbiologie. Natürliche Reaktion auf als beängstigend, stressig oder gefährlich eingestufte Situationen. Im Steinzeitalter -als wir noch Höhlenbewohner waren- sah sich der Mensch manchmal unvermittelt vor sogenannte Kampf-oder-Flucht-Entscheidungen gestellt.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Klingt überzeugend. Schließlich konnte im Winter am Eingang der Felsenbehausung jederzeit eine fremde Gruppe lungern, die unmissverständlich eigene Ansprüche auf den behaglichen Feuerplatz geltend machte.
Zeitungsmitarbeiter: Oder beim Umherstreifen fürs Abendbrot tauchten unerwartet von irgendwoher Nahrungskonkurrenten auf.
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Mit denen nicht gut Kirschen essen war. Verrückt. Erzähle ich sofort Amanda. Also, Thorsten, wir nehmen mal an, du steigst jetzt in den kühlen Strom.
Zeitungsmitarbeiter: Ja?
Fürstäbtissin von Ilbenstadt: Dann erwacht durch dein Sympathisches Nervensystem und Noradrenalin automatisch der Keulen schwingende Neandertaler in dir. Herzfrequenz und Blutdruck steigen, im Kopf hämmert unversehens nur EIN Gedanke: „Draufhauen oder abhauen?“
Zeitungsmitarbeiter: Hahahahahahahahahaha, Alessa Marie, hahahahahahahahahaha!
26. 05. 2025
Ende Erzählrunde 2
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