Szene X: Potemkinsches Dorf
Landwirt: Mädamms, versteht mich bittschön nicht falsch. Salzwiesen und Wäldchen sind nur der eine Schuh vom Paar.
Hofdame Sylvie: Heißt?
Landwirt: Dass es noch den zweiten gibt.
Hofdame Yvette: Scherzkeks. Ja, hopp! Raus mit der Sprache! Wo drückt denn der Schuh?
Hofdamen Sylvie, Veronique, Chantal, Yvette: Hahahahaha-hahahahaha!
Landwirt: Irgendwann beendete der Graf seine Wahlrede mit folgendem Ruf aus dem Erkerfenster: „Ei, gude Leut, isch hab für eusch awwer noch viel mehr Zoisch im Koffer. Mach eusch allminanner wo hie, dappt enunner zum Bahnhof. Do kennt er seehe, wos es von mir noch all so gebbe tut!“
Hofdame Yvette: Seine der französischen Sprache verpflichte Durchlaucht sprach öffentlich hessische Mundart?
Landwirt: Ei, dieser schlaue Fuchs ist doch aus Hanau. Seine Frau auch. Hat’s gemacht wie Luther, dem Volk aufs Maul geschaut. Hat gekonnt zwischen Hochdeutsch und Mundart hin und her gewechselt. Dadurch gab er in teurer adliger Kleidung, kombiniert mit weißem Schminkpuder und weiß gepuderter Zopfperücke vor, in Wirklichkeit ein bodenständiger Hesse geblieben zu sein. Und nun musst du um ein Treffen im schicken Versailles betteln.
Hofdame Chantal: Audienz.
Landwirt: Korrekt formuliert, Mädamm.
Hofdame Sylvie: Wie ich dem Dialekt entnahm, gings dann von der Burg zum Bahnhof?
Landwirt: Und allerspätestens DA, Mädamms, hätten selbst blauäugigste Gemüter, hätten selbst die Margot und ihr Herbert das wahre Gesicht des Absolutismus erkennen müssen, anstatt sich in ihrem vermeintlichen Ruhm als repräsentierende Standesvertreter zu sonnen.
Hofdame Chantal: Keine Kritik, der Dennis Kevins Absolutismus ist ein unschlagbares System!
Landwirt: Ansichtssache, Mädamm, Ansichtssache. Auf Hochglanz polierte Prachtkutschen fuhren am Hattsteiner Hof vor – doch nicht für den Dritten Stand.
Hofdame Veronique: Ach jeeeeee, mussten er, die Margot und ihr Hebert den gaaaaannnnnzen Weg zu Fuß gehen.
Landwirt: Mädamms, wisst ihr eigentlich wie es sich anfühlt, in ungewohnten, unbequemen Schuhen von der Burg hinunter bis übers Ortsende hinaus zu tappen, während auf dem breit abgesperrten Straßenbereich eine Edelkarosse nach der anderen vorbei an einem vorbeirattert?
Hofdame Veronique: Wo ist da das Problem, Bauer? Ein bisschen Bewegung schadet nicht.
Landwirt: Kleine Mädamm, wie realitätsfremd bist du eigentlich? Denkst du, nur die Margit, ihr Herbert und sind zum Bahnhof gelatscht? Zwei Menschenschlangen krochen im Schneckentempo auf den beidseitigen Bürgersteigen hinunter. Jeder trat dem anderen in die Hacken; dass dabei niemand ernsthaft zu Schaden kam grenzt an ein Wunder. Und ausgerechnet hinter mir lief eine Mama mit Kinderwagen; ständig bekam ich den in den Rücken. Ich überlebte die Strecke nur durch Selbstmotivationssprüche.
Hofdame Chantal: Mag er uns einen aufsagen?
Landwirt: Jedes Mal, wenn feine Herrschaften überholten, dachte ich mir zum Trost: „Äußerst unkomfortables Sitzen. Viel zu weiche Polster. Mein Hintern ist harte Traktorensitze gewohnt. Mein Traktorhintern ist hart wie Titan. Andere verbrennen Geld im Fitnessstudio, um nen Knack*rsch zu kriegen. Mit nem weichen Hintern könnt ich nie richtig schei…“
Hofdame Sylvie: Okokokokok. Irgendwann ist er ja dann vermutlich mal unten in die Zielgerade eingelaufen.
Landwirt: Ei, Mädamms, und das sogar VOR der letzten Luxus-kutsche. DAS nenn ich ausgleichende Gerechtigkeit!
Hofdame Chantal: Inwiefern?
Landwirt: Wie ein Lauffeuer sprach’s sich beim Grafenpaar und seiner ihm blind ergebenen blaublütigen Anhängerschaft am 2018 noch mit Straßenasphalt zubetonierten früheren Bahnübergang herum, dass oben am Hattsteiner Hof eine Windböe unplanmäßig den anspruchsvollen Frisurenstil der Freiherrin von Trübelshausen kurz vorm Einstieg mit ihrem Gatten ins prachtvolle Gefährt erfasst hatte, und die ramponierte Konstruktion in zeitraubenden Prozeduren wiederhergestellt werden musste.
Hofdame Veronique: Das ist ein Problem, Bauer!!!!! Das ist ein Problem!!!!!
Hofdame Yvette: Keinerlei Empathie für sich im weiblichen Adels-leben abspielende Dramen.
Hofdame Sylvie: Die arme Mathilde Leonore. Vor der am Gleisende genervt wartenden höfischen Gesellschaft blamiert bis auf die Knochen. Noch heute leidet sie seelisch unter dem Fauxpas.
Landwirt: Ei, Mädamms, dann kennt ihr also auch noch Münzen-bergs alten Bahnhof mit dem Prellbock; bis 1981 gingen die Schienen wenigstens noch über den Bahnübergang weiter bis Trais-Münzenberg.
Hofdame Yvette: Nein, alles vor unserer Zeit bei Hofe. Wir fingen erst im Juli 2019 an.
Landwirt: Ei, Mädamms, seid froh, dass euch jener Traueranblick erspart blieb.
Hofdame Sylvie: Wirklich so desaströs gewesen?
Landwirt: Fragt nicht, kleine Mädamm, fragt nicht. Am Zielort zeigte sich einmal mehr das ganze katastrophale Ausmaß der damaligen Stilllegung. Während ich sie alle vorm Prellbock auf der Straße über das Missgeschick ihrer adligen Standesgenossin tratschen hörte, kam mir spontan die Idee: „Komm, du betritts einfach das Gleis, hockst dich nach den Strapazen vom ‚Hattsteiner Hof‘ hierher hinunter auf’n Prellbock, lässt gemütlich die Beine baumeln und wartest. Easy going. Irgendwann geht’s ja laut Programm weiter.“ Gedacht, getan.
Hofdame Veronique: Und dann als Aussicht einen optischen Tiefschlag kassiert.
Landwirt: Mädamms, Tiefschlag wäre tiefgestapelt. Anders als oben vom Burgberg bot sich unten -kurz hinterm Ortsendeschild- am Prellbock, der das Streckenende markierte, erwartungsgemäß das Anblick des Grauens.

In die Jahre gekommene, sanierungsbedürftige, unansehnliche Gleisanlagen. Zur Kaschierung abstoßenden Elends hatte die Stadt deshalb optische Ablenkungsmanöver beschlossen und zur Beeindruckung links daneben einen schicken Bahnsteig erbauen lassen; alles roch ganz frisch nach Beton, sogar die Banderolen von der Baustelle hingen noch.
Hofdame Veronique: Kein Fürstenbahnhof à la Hanau Wilhelmsbad, dafür ein Fürstenbahnsteig.
Landwirt: Ein einzelnes Teil, Mädamms, auf den letzten Drücker quasi über Nacht aus dem Boden gestampft, sollte die Sache rausreißen, dem Graf mächtig imponieren, indem es als Blickfang die unansehnliche Gesamtrealität des Geisterbahnhofs weitmöglichst in den Hintergrund drängte; und wir damit fürs glamouröse Mainschlösschen weiterhin lukrativer Gebietszuwachs blieben. Architektonisches Blendwerk sondergleichen.
Hofame Yvette: Trickreich. Erinnert mich ein bisschen an diesen russischen Fürsten.
Hofdame Veronique: Schleierhaft allerdings, warum Münzenberg andernfalls kein lukrativer Gebietszuwachs geblieben wäre.
Landwirt: Ei, Mädamms, wer besitzt im 21. Jahrhundert noch so viel Gottvertrauen, dass er die Katze im Sack kauft? Angesichts solcher Wahlkampfversprechungen stand der Ausgang nach Monaten absolutistischer Gehirnwäsche von vornherein fest. 90% plus. Münzenberg wäre auch ohne den Hollywoodauftritt des Grafenpaares am 27. Juni Hanauerisch geworden, sein Besuch reinste Versailler Publicityshow, um sich bis weit über die eigenen Staatsgrenzen hinaus öffentlichkeitswirksam im eigenen Ruhm zu sonnen.
Hofdame Chantal: Und? Endergebnis?
Landwirt: Schlussendlich votierten sage und schreibe 97,8% aller wahlberechtigten Münzenberger für ihre phänomenale Zukunft im Schlaraffenland.
Hofdame Sylvie: Sensationelles Resultat! Das übertraf ja bei weitem die 2017 höchstrichterlich festgelegte 75%-Quote. Sie besagt, Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg stehen grundsätzlich alle Besitzstände der historischen Grafschaft Hanau-Münzenberg zu.
Hofdame Yvette: Normaljahr 1780.
Hofdame Veronique: Vorausgesetzt, hiervon tangierte Städte, Gemeinden oder Kommunen sprechen sich in vorangegangen freien sowie geheimen Wahlen für einen Wiederbeitritt aus, und damit den Anbruch neuer Verhältnisse.
Landwirt: Eeeeeiiiii, Mädamms, ihr studiert bestimmt nebenbei Staatswissenschaften! Es gab jedoch eine Sache, die wie ein drohendes Damoklesschwert über uns hing.
Hofdame Yvette: Was für ein Damoklesschwert? Eine mögliche Aufgabe des Vorhabens wegen astronomischer, unbezahlbarer Kosten?
Landwirt: Schlimmer. Als ich Däumchen drehend aufm Prellbock hockte, bangten nämlich die Magistratsmitglieder wohlweislich um den bald niederprasselnden Geldregen.
Hofdame Sylvie: Wieso? Die Prognosen waren doch eindeutig.
Landwirt: Im Rathaus befürchtete man, der aus Hanau angereiste König Midas könnte beim Anblick solch eines heruntergekommenen Bahnhofsgeländes vor lauter Schreck seine segensbringenden Hände ruckartig zurückziehen, noch ehe sie Münzenberg in Gold verwandelt hatten; trotz verzweifelter Vorspiegelung der baulichen Illusion, seit geraumer Zeit schon -lange vor Wahlkampfbeginn- seien sie hier in der Region daran, die maroden Gleis- und Bahnanlagen in privatgemeinschaftlicher Eigenregie Schritt für Schritt wieder für fahrplanmäßigen Zugverkehr in Stand zu setzen.
Hofdame Chantal: Aaaaaaaaaahhhhh, nach dem Motto: „Euer Durchlaucht, wir sind keine Bettler, die sich Euch aufdrängen, um an Hanaus finanziellem Tropf zu hängen. Nein, Euer Durchlaucht, seht, vielmehr sind wir fleißige Wohlhabende, die ihre Wiederanbindung ans Schienennetz selber in die Hand nehmen, und lediglich einen besseren Landesherrn suchen; und jaaaaa…natürlich wär’s schon total schön, wenn dieser im Gegenzug sich auch bereit erklärt, die weitere Finanzierung zu übernehmen.“
Landwirt: Eeeeeeeeeeiiiiiiiiii, Mädamms, ihr studiert bestimmt nebenbei Psychologie!!!!!
08. 04. 2025
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